Petersburger Erzählungen: Fischer Klassik PLUS (German Edition)
er begann mit ihr in einer Sprache zu reden, die Piskarjow unverständlich war, und reichte ihr den Arm. Sie warf einen flehenden Blick auf Piskarjow und bedeutete ihm durch ein Zeichen, auf seinem Platze zu bleiben und auf sie zu warten; aber er war in seiner Ungeduld nicht imstande, irgendwelche Befehle, selbst solche aus ihrem Munde, zu befolgen. Er ging ihr nach, aber die Menge drängte sich zwischen sie. Er konnte ihr fliederfarbenes Kleid nicht mehr sehen; von Unruhen ergriffen, drängte er sich von einem Zimmer ins andere und stieß alle unbarmherzig zur Seite; aber in allen Zimmern saßen lauter große Tiere beim Whist, in vollkommenes Schweigen gehüllt. In der Ecke eines Zimmers stritten einige ältere Herren über die Vorzüge des Militärdienstes gegenüber dem Zivildienste; in einer anderen Ecke machten einige junge Männer in gutsitzenden Fräcken flüchtige Bemerkungen über das mehrbändige Werk eines ernsten Dichters. Piskarjow fühlte, wie ein älterer Herr von respektgebietendem Aussehen ihn am Knopfe seines Fracks festhielt und sein Urteil über eine recht treffende Bemerkung, die er gemacht, hören wollte; er stieß ihn aber roh zur Seite und merkte sogar nicht, das jener einen ziemlich hohen Orden am Halse hatte. Er lief in ein anderes Zimmer, – sie war dort nicht, in ein drittes, – auch dort war sie nicht. »Wo ist sie denn? Gebt sie mir! Oh, ich kann nicht leben, ohne sie zu sehen! Ich will hören, was sie mir sagen wollte!« Aber all sein Suchen war vergeblich. Unruhig, ermüdet drückte er sich in eine Ecke und blickte in die Menge; seine gespannten Augen sahen aber alles getrübt. Endlich sah er um sich deutlich die Wände seines eigenen Zimmers. Er hob die Augen: vor ihm stand der Leuchter mit fast erloschener Flamme; die ganze Kerze war geschmolzen; der Talg hatte sich auf seinen alten Tisch ergossen …
Er hatte also nur geschlafen! Mein Gott, welch ein herrlicher Traum! Wozu mußte er auch erwachen? Warum hatte es nicht noch eine Minute gedauert? Sie wäre doch sicher wieder erschienen! Das Morgengrauen blickte mit seinem unangenehmen, trüben Scheine zu ihm ins Zimmer und ärgerte ihn. Das Zimmer lag so grau und unordentlich vor ihm … Oh wie abstoßend ist doch die Wirklichkeit! Was ist sie im Vergleich zu einem Traume. Er entkleidete sich schnell, legte sich ins Bett und hüllte sich in die Decke: er wollte unbedingt das entschwundene Traumbild zurückrufen. Ihn überkam wieder der Schlaf, er träumte aber von Dingen, die er gar nicht sehen wollte: bald erschien ihm der Leutnant Pirogow mit einer Pfeife, bald ein Diener der Kunstakademie, bald ein Wirklicher Staatsrat, bald der Kopf einer Finnin, deren Bildnis er einmal gemalt hatte, und ähnlicher Unsinn.
Er lag bis zur Mittagstunde im Bett und bemühte sich, wieder einzuschlafen, sie erschien aber nicht. Wenn sie doch nur für einen Augenblick ihre herrlichen Züge zeigen wollte, wenn er doch nur einen Augenblick ihre leichten Schritte hören, ihre bloße, wie der Schnee auf den höchsten Bergesgipfeln leuchtende Hand sehen könnte!
Er hatte alles von sich geworfen, alles vergessen, und sah mit bestürzter, hoffnungsloser Miene, nur von dem einen Traumbilde erfüllt. Er wollte nichts anrühren; seine Augen blickten teilnahmslos und leblos durchs Fenster auf den Hof, wo ein schmutziger Wasserführer Wasser ausschenkte, das in der Luft einfror, und die Stimme eines Hausierers meckerte: »Alte Kleider zu verkaufen!« Alles Alltägliche und Wirkliche berührte seltsam sein Ohr. So saß er bis zum Abend und warf sich dann voller Sehnsucht ins Bett. Lange kämpfte er gegen die Schlaflosigkeit, und schließlich überwand er sie. Wieder hatte er einen Traum, einen gemeinen, häßlichen Traum. »Gott, erbarme dich meiner, zeig’ sie mir, wenn auch nur für einen Augenblick!« Er wartete wieder auf den Abend, er schlief wieder ein, und träumte wieder von irgendeinem Beamten, der ein Beamter und zugleich ein Fagott war. Oh, das war unerträglich! Endlich erschien sie! Er sah ihren Kopf, ihre Locken … sie sah ihn an … Oh, wie kurz! Und wieder versank alles in einem Nebel und wurde von einem dummen Traumgesicht verdeckt.
Endlich wurden diese Traumgesichte zu seinem eigentlichen Leben, und sein ganzes Leben nahm von nun an eine merkwürdige Form an: er schlief, sozusagen, im Wachen und wachte im Schlafen. Hätte ihn jemand stumm vor seinem leeren Tische sitzen oder durch die Straßen gehen sehen, so mußte er ihn für einen
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