Pfad der Schatten reiter4
Behauen und Bearbeiten der Steine unterwiesen worden war. Er beschrieb ihr, wie ein Steinmetz die Struktur des Steins spürte und warum man ein unvollkommenes Stück erhielt, wenn man gegen die Maserung schnitt, und warum ein Schmied für den Arbeitsprozess notwendig war, weil jemand die Werkzeuge scharf halten musste.
Ihr Interesse an Dingen, die ihm in seinem Leben völlig selbstverständlich schienen, schmeichelte ihm. Sie stellte intelligente Fragen, ohne allzu tief zu schürfen. Seinen Antworten schien sie mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu lauschen.
Plötzlich presste er die Lippen zusammen, denn ihm wurde klar, dass er eine Menge erzählt hatte. Und zwar über sich. Hatte sich Karigan jemals so für ihn interessiert, oder entstammten Estrals Fragen einfach einer Fähigkeit, die bei Bänkelsängern besonders ausgeprägt war?
»Was ist los?«, fragte Estral.
»Nichts. Wir haben … ich habe endlos lang geredet.«
»Und viele offene Fragen geklärt«, antwortete Estral. »Karigan hat mir natürlich nicht alles über dich erzählt.«
»Du hast mir nie gesagt«, begann er leise und starrte in die Lampenflamme, »wie Karigan mich sieht. Ich … ich würde das sehr gern wissen.« Er musste das sogar wissen, aber nun, als seine Worte in der Luft zwischen ihnen hingen, stieg Scham in ihm auf, weil er danach gefragt hatte. Weil er ausgerechnet
Estral danach gefragt hatte. Aber wer kannte Karigan schon so gut wie sie?
»Das habe ich dir schon gesagt«, antwortete Estral. »Sie mag dich sehr gern.«
»Ich hatte gehofft … ich meine …« Alton glühte innerlich. Er starrte auf seine Hände, und es gelang ihm nicht, Estrals Blick zu begegnen. »Ich dachte, vielleicht sei da noch mehr.«
»Als ich Karigan das letzte Mal gesehen habe, sprachen wir über verschiedene Dinge in ihrem Leben. Über ihren Vater, über den jungen Reiter, den sie ausbildete, und über andere Dinge, die sie mir anvertraut hat und die ich als ihre Freundin nicht verraten werde. Was dich angeht, war sie verwirrt und verletzt, aber ich hatte den Eindruck, dass sie eure Freundschaft gern erhalten wollte.«
Freundschaft . Das Wort hinterließ einen bitteren Geschmack, aber er durfte nicht vergessen, dass Estral Karigan zuletzt gesehen hatte, bevor er sich bei ihr entschuldigt hatte. Bevor er ihr seine Briefe geschickt hatte.
Eine unbehagliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Die Zeltwände bauschten sich raschelnd, und unförmige Schatten huschten über die Leinwand. Irgendwo in der Ferne rief ein Soldat die Stunde der Wache aus.
»Es ist schon spät«, murmelte Estral. »Ich sollte lieber gehen.«
»Was?«
»Es wird spät. Ich muss mir einen Platz zum Übernachten suchen.«
»Nein«, sagte Alton etwas zu scharf. »Ich meine, bitte geh nicht weg. Wo willst du denn hin?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht zu Leese.«
»Ihr Zelt ist drüben im anderen Lager, und draußen ist es stockdunkel.«
Sie hob eine Augenbraue.
»Du bleibst heute Nacht hier«, sagte er. »Ich kann woanders hingehen.« Er stand auf und verließ das Zelt ohne ein weiteres Wort, damit sie nicht protestieren konnte. Er war froh über die Kälte der Nacht, weil sie sein inneres Glühen kühlte. Er atmete tief durch und war überrascht, wie angespannt sein Körper war. Er rieb sich das Gesicht und ging rasch auf den Turm zu.
Drinnen fand er die Turmkammer leer, aber von einem sanften Lichtschein erleuchtet. Merdigen war schon fortgegangen, um sich mit den anderen Magiern zu beraten. Vielleicht würde er tagelang wegbleiben. Alton war erleichtert, allein zu sein.
Er lenkte sich ab, indem er in dem großen Kamin Feuer machte. Er stapelte kleine Zündlinge auf und benutzte Feuerstein und Stahl, um sie anzuzünden. Als eine kleine Flamme knisternd zum Leben erwachte, blies er sie an, um sie zu vergrößern, und legte dann dickere Holzscheite auf, um die Glut anzufachen.
Während er arbeitete, dachte er an Estral Andovian, die allein in seinem Zelt saß. Sie erweckte etwas in ihm, das lange Zeit fort gewesen war; sie erweckte einen Heißhunger nach ihrer Gegenwart, ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Berührung, und dieser Hunger wurde immer größer. Er hatte sie nicht allein lassen wollen, aber es wäre zu gefährlich gewesen zu bleiben. Er konnte sich nicht auf sich selbst verlassen. Er konnte sich nicht einmal darauf verlassen, dass er nicht aus dem Turm flüchten und zurück zu seinem Zelt rennen würde, um in ihre Gegenwart einzutauchen und den Schmerz einer
Weitere Kostenlose Bücher