Pfad der Schatten reiter4
einsetzen wollte.
»Lynx ist in den Wald gegangen, um mit den Tieren zu reden oder so etwas«, fuhr Yates fort. »Zu viel Zivilisation hier.«
»Ard?«
»Schnarcht noch in seinem Zelt.«
»Und Estral?«
»Ist mit den anderen im Turm.«
Karigan seufzte. Sie hoffte, dass sie nicht den ganzen Tag dort verbringen würden, denn wie sollte sie sich sonst beschäftigen?
»Was hast du heute vor?«
»Wenn die Frühstücksschicht von Edna da drüben vorbei ist, werden wir uns aneinander erfreuen.« Yates lächelte und winkte einer der Köchinnen zu, die an andere Nachzügler Haferbrei austeilte. Sie war ein hübsches, zartes Mädchen.
Tja, dachte Karigan, ihr blieb immer noch Kondor zur Gesellschaft, und sie würde ihn bald auch sehr vermissen, aber sie kam trotzdem nicht gegen die Trostlosigkeit an, die sie erfüllte.
Als sie das Messezelt verließ, holte sie ihre Reitausrüstung und besuchte Kondor. Sie striegelte ihn, bis sein Fell schimmerte, und bürstete das Winterfell ab, das in ganzen Büscheln abfiel. Sein Kopf schnellte hoch, und er wieherte erfreut.
Dann legte sie ihm Sattel und Zaumzeug an, stieg auf und ritt durch das Lager zum Wall. Statt nach Westen zur Bresche zu reiten, trieb sie Kondor nach Osten. Sie ließ ihn sämtliche Gangarten absolvieren, ritt manchmal in langsamem Schritt, manchmal ihn großen Sprüngen und galoppierte, wenn das Terrain es erlaubte. Die ganze Zeit über stand der Wall unnachgiebig neben ihr. Sie hätte den ganzen Weg bis zur östlichen Meeresküste reiten können, ohne dass sich die kalte, harte Fläche des Walls veränderte.
Beim Reiten bemühte sie sich, gedanklich in der Gegenwart zu bleiben, und machte sich bewusst, wie die Wälder rochen und wie das Sonnenlicht auf den Blattspitzen der immergrünen Bäume spielte. Sie lauschte dem Gezwitscher der Vögel
und beobachtete Eichhörnchen, die einander rund um die Baumstämme jagten und nicht ahnten, vor welchen Gefahren der Wall sie beschützte. Es war schwer zu glauben, dass jenseits des wenige Fuß breiten Steins eine völlig andere Welt lag – ein dunkler Spiegel der Welt, durch die sie ritt.
Morgen würde die Tagundnachtgleiche nicht nur das Gleichgewicht zwischen Tag und Nacht herstellen, sondern auch den Frühling bringen. Auf dieser Seite des Walls würde es immer heller werden, und auch lebhafter, da die Vögel aus den südlichen Gebieten zurückkehren würden, und grünes Wachstum würde Schnee und Eis verdrängen. Sie fragte sich, wie der Frühling wohl im Schwarzschleier war und ob die Jahreszeiten dort überhaupt eine Rolle spielten.
Auf jeden Fall wollte sie sich alles tief ins Bewusstsein einprägen, was ihr immer selbstverständlich gewesen war. Doch so sehr sie sich auch bemühte, in der Gegenwart zu bleiben, sie konnte den Lärm der Gedanken und Sorgen doch nicht aus ihrem Inneren vertreiben: Was sie Alton sagen sollte, wann die Eleter eintreffen würden und wie ihr Vater wohl reagieren würde, falls sie den Schwarzschleier nicht überlebte.
Mittags hielt sie an, um den kalten Imbiss zu essen, den ihr die Lagerköche mitgegeben hatten. Sie lehnte sich an den Wall, schälte ein hart gekochtes Ei und beobachtete Kondor, der an dem verwelkten Grünzeug knabberte. Was würde mit Kondor geschehen, falls sie nicht zurückkam? Wahrscheinlich würde er einen neuen Reiter finden, genau wie er sie gefunden hatte. Doch es war schwer vorstellbar, dass er mit einem anderen Reiter ein Team bilden würde. Es war, als habe er immer zu ihr gehört.
Als sie fertig gegessen hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zurückzureiten. Während sie Kondor am Zügel wendete, raschelte es über ihr in einem der Bäume. Eine große Schneeeule, noch immer im weißen Gefieder, saß auf einem knorrigen
Ast. Sie schien sie zu beobachten, ohne sie direkt anzublicken.
Die Eule berührte irgendetwas, das tief in ihrem Bewusstsein lag, irgendeine verborgene Erinnerung, die sie nicht erfassen konnte und die sie sich, so sehr sie sich auch bemühte, nicht bewusst machen konnte. Sie zuckte die Achseln. Falls es wichtig war, würde es ihr irgendwann schon wieder einfallen.
Sie empfand es als Auszeichnung, auf ihrem Ritt einem so wunderschönen Vogel zu begegnen, aber innerhalb weniger Augenblicke wurde die Eule selbst zu einer Erinnerung, denn sie flog zwischen den Ästen der Bäume auf und erhob sich über die Wipfel, bis sie außer Sicht war. Karigan atmete auf, als wäre sie aus einem Bann erlöst.
Sie kam gerade rechtzeitig
Weitere Kostenlose Bücher