Pfad der Schatten reiter4
ebenfalls hinsetzte.
Ein Mondstein, dachte Karigan, während sie sich setzte, meine Mutter hatte einen Mondstein.
»Deine Mutter war so schlimm krank«, fuhr Tante Stace fort. »Immer wieder verfiel sie in Fieberwahn. Sie sang Worte, die wir nicht verstanden, und sie zeigte auf tote Verwandte im Zimmer, die sonst keiner sehen konnte. Sie singt mir vor, sagte sie immer wieder. Wer? , fragten wir sie, aber sie antwortete nur: Genau wie damals, als ich mit Kari schwanger war. Sie singt mir vor.« Tante Stace zuckte die Achseln. »Wir wussten nicht, wen sie meinte, aber dann sprach sie mit ihrer Großmutter
und ihrem Großvater, die natürlich längst tot waren. Vielleicht war es ihre Großmutter gewesen, die gesungen hatte?«
Karigan schauderte und fragte sich, ob sie womöglich gar nicht die Einzige in ihrer Blutlinie war, die die Gabe besaß, die Toten zu sehen.
»Dann, auf einmal«, sagte Tante Stace, »ergriff sie Stevics Handgelenk, und wir erschraken alle. Ich zittere immer noch, wenn ich nur daran denke. Stevic beugte sich ganz nah zu ihr, um zu hören, was sie sagte.«
»Und was hat sie gesagt?«, fragte Karigan fast flüsternd. Tante Stace runzelte die Stirn. »Gib Kari den Mun-rie-ell. Genau das hat sie gesagt. Gib Kari den Mun-rie-ell. Sie sagte es immer und immer wieder, bis sie vor Erschöpfung Stevics Handgelenk fallen ließ. Danach ist sie friedlich gestorben, einfach eingeschlafen. Beinahe … beinahe lächelnd.«
Karigan hatte bereits ein wenig über die letzten Augenblicke ihrer Mutter gehört, dass sie friedlich gestorben war, umgeben von den Menschen, die sie geliebt hatte. Aber noch nie hatte ihr jemand erzählt, dass ihre Mutter tote Familienmitglieder gesehen hatte, und dass es ihr letzter Wunsch gewesen war, Karigan den Mondstein zu geben.
»Ich denke, er gehört dir«, sagte Tante Stace und hielt den Kristall gegen das Licht, wie hypnotisiert von seiner Schönheit. »Er gehört dir, nach all den Jahren ist er zu dir gekommen. Wir hatten damals keine Ahnung, wovon deine Mutter sprach, wir wussten nicht einmal, dass dieser Kristall überhaupt existierte, also konnten wir ihn dir auch nicht geben, wie sie es gewünscht hatte, und wir dachten … Wir hielten es für besser, dir nichts über ihre letzten Worte zu sagen, denn wir glaubten, dass sie im Fieber gesprochen hatte, und wollten dich nicht mit einer Geschichte über ihren verwirrten Geisteszustand traurig machen.«
Noch mehr Geheimnisse, dachte Karigan, aber sie war nicht wütend. Nur benommen. Benommen und fassungslos.
»Hier hast du ihn, Liebling.« Ein wenig zögernd ließ Tante Stace den Mondstein auf Karigans ausgestreckte Hand rollen.
In dem Augenblick, in dem er ihre Haut berührte, leuchtete der Stein mit einer solchen Helligkeit, dass beide Frauen ihre Augen zusammenkneifen mussten.
»Gütige Himmel!«, stieß Tante Stace hervor. »Wie ist das geschehen?«
»Er ist eletisch«, antwortete Karigan. »Ein Muna’riel ist ein Mondstein. Er enthält einen Mondstrahl.«
»Eletische Magie?«, fragte Tante Stace mit gedämpfter Stimme.
Karigan nickte, und das Strahlen des Mondsteins wurde zu einem weichen, silbrigen Glanz. Wärme breitete sich über Karigans Handfläche bis in ihren Arm aus. Sie war nicht sicher gewesen, ob sich der Stein für sie erhellen würde, aber er hatte es getan, genau wie der allererste Mondstein, den sie jemals berührt hatte. Dieser hatte ursprünglich einem Paar exzentrischer, älterer Schwestern gehört, die mitten im Grünmantelwald lebten. Er war einer von vielen magischen Gegenständen gewesen, die deren Vater, Professor Berry, im Laufe seines Lebens gesammelt hatte. Die Schwestern Berry waren so beeindruckt davon gewesen, dass er für Karigan aufgeleuchtet hatte, nachdem er das für sie nie getan hatte, dass sie ihn ihr geschenkt hatten.
Sie war sich niemals darüber im Klaren gewesen, warum die Magie bei ihr gewirkt hatte und bei anderen nicht, aber nachdem sie den Mondstein erhalten hatte, war sie einem Eleter namens Somial begegnet, der ihr erzählte, die Gunst des Mondsteins bedeutete, dass sie »von Laurelyn berührt« worden sei, einer Freundin des Elt-Waldes. Karigan wusste nicht
genau, was das bedeuten sollte, zumal einige Eleter sie eher als Feindin behandelt hatten.
Laurelyn, die Mondträumerin, war eine mythische, eletische Königin des legendären verlorenen Reiches von Argenthyne. Sie war eine Legende gewesen, bis Karigan erfahren hatte, dass sowohl Laurelyn als auch ihr
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