Pfad der Schatten reiter4
Auffassung des Buches sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen verändert hatte. Wenn sie einen Nachfolgeband schreiben würde, wäre Blaine allmählich klüger geworden, hätte Gilan mit seinen Torheiten allein gelassen und würde für einen edleren Zweck arbeiten, als lediglich durchs Land zu streifen und zu hoffen, irgendwelchen Abenteuern zu begegnen. Nein, in ihrer Version würde Blaine ihr Schwert einem guten Prinzen anbieten, der sein Reich gerecht regierte. Blaines Abenteuer wären wesentlich sinnvoller und realistischer.
Vielleicht könnte sie aus Blaine eine königliche Botin machen? Karigan lachte über sich selber.
Sie nahm den Mondstein aus ihrer Tasche, um eine Illustration des mächtigen, unmöglich muskulösen und blendend aussehenden Gilan zu betrachten, der mit einem Schwert in der einen und dem blutigen Kopf eines Ungeheuers in der anderen Hand dastand, während Blaine ihn mit ihrer typischen Bewunderung anhimmelte.
Das Licht durchflutete das Büro mit einer Helligkeit, die dieser Raum noch nie gesehen hatte. Die Gegenstände bekamen glasklare Umrisse, und die Farben der Illustration sprangen sie aus der Seite geradezu an. Der Goldschnitt glitzerte.
Einem Impuls folgend wandte Karigan den Kopf, um das Porträt ihrer Mutter zu betrachten. Es war fast, als würde ihre Mutter lebendig; ihre Haut wirkte so warm und wirklich, ihre Haare glänzten, und ihre Augen waren voller Licht. Das Lächeln auf den Lippen war deutlicher, als Karigan es in Erinnerung gehabt hatte. Mit einem leichten Schaudern wandte sie den Blick wieder ab und starrte in das silberne Leuchten des Mondsteins, das Buch auf ihrem Schoß hatte sie vergessen.
Fast konnte sie ihre Mutter hören, wie sie ihr ein Lied über Laurelyn vorsang:
Der Mondmann liebte Laurelyn, der hellste Geist
unter den Sternen, und er baute ihr ein Schloss
aus silbernen Mondstrahlen
im waldreichen Argenthyne, die süße Silberseele …
Karigan konnte nicht widerstehen und warf einen weiteren Blick auf das Porträt. Sie erinnerte sich an die Wärme der Umarmung ihrer Mutter, während diese von Laurelyn sang.
Sie fand, dass dies, zusammen mit der Entdeckung des Mondsteins, ein bemerkenswerter Zufall war. Allzu bemerkenswert.
Hatte sich ihre Mutter im Wald mit Eletern getroffen, wie Tante Stace vermutete? Wie wäre sie sonst in den Besitz des Mondsteins gelangt? Die Schwestern Berry hatten gesagt, ein Eleter habe ihrem Vater den Stein gegeben, den sie geerbt hatten. Falls das stimmte, war es vielleicht gar nicht so verwunderlich, dass ihre Mutter ebenfalls einen bekommen hatte.
Und doch war es sonderbar.
So schön die Mondsteine auch waren, und so nützlich als Lichtquelle – wenn sie freigesetzt wurden, waren sie mächtig. Derjenige, den die Schwestern Berry ihr gegeben hatten, war schließlich zu einer Waffe geworden, als sie gegen Shawdell kämpfte, den Eleter, der die Bresche in den D’Yer-Wall geschlagen hatte. Sie hatte sein Licht geschwungen wie ein Schwert, es war schärfer und stärker als jeder irdische Stahl gewesen. Als der verwundete Shawdell schließlich floh, waren von dem Mondstein nur noch Kristallfragmente in ihrer Hand zurückgeblieben.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Eleter Mondsteine einfach wahllos an irgendwelche Personen verteilten. Was hatten sie bezweckt, als sie ihrer Mutter einen gegeben hatten? Hatten sie gewollt, dass er früher oder später zu Karigan kam, so wie Professor Berrys Stein zu ihr gekommen war?
Sie schloss ihre Finger um den Mondstein, und wieder überkam sie das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Ihre Tanten waren froh, dass das Rätsel um Karinys letzte Worte nun gelöst war, aber für Karigan war das keine Lösung, sondern führte nur zu weiteren Fragen.
Geheimnisse, dachte sie. Zu viele Geheimnisse.
Das Geräusch der Eingangstür, die sich öffnete und wieder schloss, und der Klang stampfender Füße in der Eingangshalle rissen sie aus ihren Gedanken.
»Stevic?«, rief Tante Stace von irgendwoher im Inneren des Hauses, und gleich darauf erklangen ihre Schritte im Korridor.
»Es schneit nicht mehr«, antwortete er. »Es sieht aus, als würden die Wolken sich auflösen.«
»Gut, gut«, sagte Tante Stace. »Dann kannst du dir vielleicht ein paar Minuten Zeit nehmen, um dich mit deiner Tochter zu unterhalten. Sie ist nicht oft zu Hause.«
Karigan steckte den Mondstein wieder in die Tasche und schlich zur Bürotür. Sie spähte in die Eingangshalle und sah ihren Vater,
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