Pfad der Schatten reiter4
Schneesturm. Sie sah aus dem
Fenster, als hoffte sie, ihn draußen auf seinen Schneeschuhen herumstapfen zu sehen, aber sie sah nichts als den Raureif auf dem Glas.
Wahrscheinlich prüft er, ob die Straßen frei sind, damit er mich los wird.
Tante Stace legte den Schürhaken zur Seite, kam zu Karigan und strich sich den Rock glatt, als sie sich aufs Bett setzte . »Was ist passiert?«, fragte sie leise und berührte das Kleid. »War es etwas, das dein Vater gesagt hat?«
»Nein. Ich … ich weiß es nicht. Aber Mutter … ich vermisse sie. Ich erinnere mich kaum noch an sie.« Dann schossen ihr plötzlich wie aus dem Nichts Tränen in die Augen. Tante Stace nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Sie roch nach Seife und Zimt.
»Ich weiß, Liebling, ich weiß.« Tante Stace streichelte ihren Rücken. »Du weißt aber, dass sie dich sehr geliebt hat, nicht wahr?«
Karigan schniefte und nickte.
»Gut. Das ist das Wichtigste.«
»Ich erinnere mich, dass sie mir gern etwas vorsang.«
»Ja, das stimmt, und sie hatte eine schöne Stimme.«
»Das ist etwas, das ich nicht von ihr geerbt habe«, sagte Karigan und lachte.
»Aber du hast ihre Augen, ihre Haare und viele ihrer liebenswerten Eigenschaften«, sagte Tante Stace. »Vergiss niemals, dass sie in dir weiterlebt.«
Fast wäre Karigan erneut in Schluchzen ausgebrochen, aber sie schluckte die Tränen herunter und wischte sich die Nase mit ihrem Ärmel.
»Ich glaube«, sagte Tante Stace, »dass es dir nach einem kräftigen Frühstück viel besser gehen wird.«
Karigan nickte. Sie hatte tatsächlich Hunger.
»Gut. Dann lass mich dir helfen, dieses Kleid zusammenzufalten.
« Tante Stace glättete einen der Ärmel. »Deine Mutter sah wunderschön darin aus. Sie leuchtete geradezu. Dein Vater dagegen …«Tante Stace kicherte und fing schließlich an, herzhaft zu lachen.
Karigans Tanten hatten ihr die Geschichte von der Hochzeit ihres Vaters schon so oft erzählt, dass bloß eine von ihnen das Wort Hochzeit fallen lassen musste, damit sie alle in hemmungsloses Gelächter ausbrachen. Außer ihrem Vater, der dann meistens stöhnte und das Zimmer verließ.
»Er … er wurde so weiß wie der Bauch eines Rochens, als er Kariny sah.« Tante Stace zitterte am ganzen Körper. »Er war dermaßen nervös!«
Es war tatsächlich komisch, dachte Karigan, sich ihren Vater zusammengesunken in den Armen des Mondpriesters vorzustellen, während der Lordbürgermeister von Corsa und die ganze Elite der Handelsgilde dabei zusahen. Sie konnte nicht anders, als in Tante Staces Gelächter einzufallen.
Als sie sich erholt hatten, hoben sie das Kleid auf, um es zusammenzulegen, und etwas Festes fiel heraus und landete auf dem Bett.
»Was in allen Himmeln …?« Tante Stace hob den Gegenstand auf.
»Was ist das?«, fragte Karigan, nachdem sie das Kleid gefaltet und sorgfältig wieder in die Truhe gelegt hatte.
»Eine Art Kristall.« Tante Stace öffnete ihre Hand und zeigte ihr einen durchsichtigen, runden Kristall, der hell aufblitzte, als das Licht ihn berührte. Sie ließ ihn über ihre Handfläche rollen, und es schien, als würde er das ganze Tages- und Feuerlicht im Zimmer auffangen und in allen Regenbogenfarben schimmernd gegen die Wände und die Zimmerdecke werfen. »Ein hübsches Ding.«
»Muna’riel«, murmelte Karigan, die vor Verblüffung verstummt war.
»Was sagst du?« Etwas Seltsames flackerte in Tante Staces Augen auf.
»Muna’riel.« Karigan wusste genau, was das war, denn sie hatte ebenfalls einmal einen besessen – aber was in den Namen aller Götter hatte ein eletischer Mondstein in den Falten des Hochzeitskleides ihrer Mutter zu suchen?
»Muna-rie-ell«, murmelte Tante Stace und kratzte sich am Kopf. »Da klingelt irgendetwas aus längst vergangenen Tagen in meinem Kopf…«
»Was denn?«, fragte Karigan
»Lass mich überlegen.« Tante Stace sah zu Boden, als durchforschte sie ihre Erinnerungen. »Muna-rie-ell. Deine Mutter hat mal etwas gesagt…«
»Mutter?« Karigan zitterte und musste sich zurückhalten, um ihre Tante nicht zu schütteln, damit die Erinnerungen aus ihr herauspurzelten.
»Ahh, jetzt weiß ich«, sagte Tante Stace wie im Selbstgespräch. »Wir hatten uns gewundert, was sie wohl meinte, aber dann dachten wir, dass es das Fieber war.«
»Wie? Was meinst du?«
»Sie lag schon im Sterben«, sagte Tante Stace, setzte sich wieder aufs Bett und klopfte mit der flachen Hand neben sich auf die Matratze, damit Karigan sich
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