Pfad der Schatten reiter4
Karigan hatte gedacht, ihr Vater sei derjenige, der Geheimnisse hatte!
VERFLUCHT
Auf Tante Staces Aufmunterung hin ging Karigan nach unten zum Frühstück. Durch das Essen erwachten ihre Lebensgeister wieder. Während sie aß, bestand Tante Stace darauf, dass sie den Mondstein den anderen Tanten zeigte. In dem Augenblick, indem er aus ihren Händen in die Hände ihrer Tanten glitt, erlosch sein Licht, und er war wieder nichts weiter als ein wunderschöner Kristallklumpen.
Wieder wusste sie nicht, was das bedeutete. Warum, fragte sie sich erneut, leuchteten Mondsteine für sie auf, aber für andere nicht?
Von Laurelyn berührt, hatte Somial gesagt.
Sie hatte das Gefühl, dass da etwas Größeres im Gange war, etwas, das ihr Wissen überstieg. Als sei sie in eine Geschichte verstrickt, die sie nicht selbst in der Hand hatte, machtlos, ihr eigenes Geschick zu bestimmen. Sie schauderte. Sie mochte es gar nicht, wenn äußere Mächte, wie ihre Berufung zur Reiterin, sich in ihr Leben einmischten.
»Uff«, seufzte sie. Vielleicht maß sie all dem zu viel Bedeutung bei, aber in den letzten Jahren war in ihrem Leben so viel passiert, dass es ihr schwerfiel, das Gefühl zu ignorieren.
Nach dem Frühstück schlenderte sie aus der Küche in den Hauptsaal. Sie spielte mit dem Mondstein in ihrer Tasche und fand sich bald vor der Tür zum Büro ihres Vaters wieder. Da sie weder irgendwelche Lösungen der Geheimnisse um den
Mondstein parat hatte, noch etwas Besseres mit ihrer freien Zeit anzufangen wusste, beschloss sie, zumindest zu versuchen, sich abzulenken, indem sie die Büchersammlung der Familie durchstöberte.
Ihr Vater war immer noch irgendwo draußen, deshalb hatte sie keine Hemmungen, sein Reich zu betreten. Sie ging hinein und schlenderte zu den Regalen hinüber, und während ihr Blick über die Rücken der zahlreichen ledergebundenen Bücher glitt, spürte sie die Anwesenheit des Porträts ihrer Mutter hinter dem Schreibtisch ihres Vaters. Fast fühlte sie sich beobachtet, als würde ihr jemand über die Schulter sehen. Vielleicht fühlte sie die Anwesenheit ihrer Mutter so intensiv, weil sie vorhin ihr Kleid in den Händen gehalten und über sie gesprochen hatte. Karigan versuchte, das Gefühl abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht ganz, und sie versuchte, sich auf die Bücher zu konzentrieren, so gut sie konnte.
Die Bibliothek der G’ladheons enthielt zahlreiche alte Geschäftsbücher und ein Exemplar von Wagners Navigation, das ihrem Vater gehörte . Früher hatte Karigan liebend gern darin geblättert, die Seekarten und die leuchtend bunten Abbildungen fantastischer Seeungeheuer betrachtet. Die Regale enthielten auch mehrere Geschichtsbücher, Bücher über den Handel und ein weiteres Lieblingsbuch, Amrys Buch der Leviathane , das detaillierte Kunstdrucke aller Delfine und Wale enthielt, die die Tiefen bewohnten. Es war ein altehrwürdiges Nachschlagewerk, das man auf vielen Walfangbooten finden konnte.
Es gab nur wenige Romane, aber Karigans Blick wurde von ihrem Lieblingsroman Die Abenteuer des Gilan Wylloland angezogen. Sie zog es aus dem Regal. Der Lederumschlag war dunkelgrün gefärbt und die Seiten mit Goldschnitt geschmückt.
Mit dem Buch setzte sie sich in den Armsessel ihres Vaters und blätterte durch die Seiten, die ein wenig abgegriffen waren,
weil sie früher so oft darin gelesen hatte. Das Buch handelte von den unwahrscheinlichen Abenteuern Gilans und seiner Gefährtin Blaine, die durch das imaginäre Land Arondel gezogen waren und dort Drachen getötet, Prinzen und Prinzessinnen gerettet, Banditen gejagt und andere Heldentaten vollbracht hatten.
Karigan fiel auf, dass Gilan und Blaine weder eine Familie noch ein Zuhause hatten, oder irgendeinen erkennbaren Broterwerb, abgesehen von gelegentlichen Belohnungen dankbarer Prinzen in Form von Gold; manchmal fanden sie auch einen Schatz in einer Koboldhöhle. Sie gingen aus allen Abenteuern mehr oder weniger unversehrt hervor und waren stets sofort wieder begierig auf das nächste.
Ihre Taten schienen keine dauerhaften Folgen nach sich zu ziehen, nicht einmal, wenn sie völlig unbekümmert die Bösen töteten. Während sämtliche Frauen sich ständig Gilan an den Hals warfen, machte der armen Blaine nie jemand romantische Avancen. Dennoch sorgte der Autor dafür, dass Blaine Gilan stets treu ergeben war und ihn von ganzem Herzen bewunderte, obwohl dieser nach Karigans Meinung ein selbstverliebter Flegel war.
Eigenartig, wie ihre
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