Pfad der Schatten reiter4
dick vermummt und mit seinen Schneeschuhen in der Hand. Schnee fiel von seinen Schulten und seinen Stiefeln. Tante Stace stand ihm mit verschränkten Armen gegenüber.
»Gleich«, sagte er. »Aber erst muss ich noch …«
»Erst musst du mit deiner Tochter über gewisse Dinge sprechen.«
»Gewisse Dinge? Was für Dinge?« Dann verfinsterte sich Stevic G’ladheons Blick. »Sie hat dir von dem Bordell erzählt?«
Tante Stace riss die Augen auf. »Bordell? Was für ein Bordell?«
Schweigen erfüllte die Eingangshalle, als die Geschwister einander anstarrten.
Tante Stace schüttelte sich, und Karigan konnte erkennen, dass sie vor Fragen geradezu barst, aber sie sagte nur: »Du musst mit Karigan über ihre Familie sprechen. Über Karinys Familie.«
»Warum? Wozu?« Stevic war auf der Hut. »Sie hat ein Recht darauf, zu wissen«, antwortete Tante Stace, »was auf der Insel über die Grays geredet wurde. Und wie manche Frauen aus der Familie …«
»Nein.«
»Stevic …«
»Nein, ich werde nicht über diese Lügen sprechen. Nichts von alldem war wahr, und ich werde solche Gespräche in meinem Haus nicht dulden.«
»Aber du…«
»Es ist schlimm genug, dass meinen Tochter verflucht ist, und dass diese verdammte Reiterberufung sie mir weggenommen hat.«
Seine Worte trafen Karigan wie ein Hieb. Verflucht? Er glaubte, sie sei verflucht? Sie schlang ihre Finger fester um den Mondstein in ihrer Tasche.
»Aber Kariny …«
»Sprich nicht von ihr, sprich in diesem Zusammenhang nicht einmal ihren Namen aus. Sie war unberührt vom Schandfleck der Magie. Sie war vollkommen.«
Karigan schluckte heftig und hatte das Gefühl, als glitte ihr der Boden unter den Füßen weg. Sie wusste, was ihr Vater von Magie hielt, dass er sie ablehnte, weil er Angst hatte. Diese Einstellung war unter den Sacoridern, deren Vorfahren unter der Verwüstung Mornhavons des Schwarzen gelitten hatten, nichts Ungewöhnliches.
Aber die Heftigkeit seiner Stimme, der Hass erschreckten sie. Er betrachtete sie als verflucht, als vom Bösen besudelt. Ein erstickter Schrei entfloh ihren Lippen.
Ihr Vater und ihre Tante sahen zur der Türschwelle hinüber, auf der sie stand.
»Karigan?«, sagte Tante Stace.
Ihr Vater wurde bleich.
Karigan bemerkte kaum die Tränen auf ihren Wangen.
»Karigan«, sagte ihr Vater, »ich wollte damit nicht sagen, dass …«
Aber dann zog sie die Hand aus der Tasche, und der Mondstein lag auf ihrer Handfläche. Er tauchte die Eingangshalle in ein grelles silbrig-weißes Licht und die Haut ihres Vaters nahm eine tödliche Blässe an.
Die Schneeschuhe knallten auf den Boden.
»Nein«, flüsterte er.
Bevor Karigan oder Tante Stace auch nur ein Wort sagen konnten, stieß er die Vordertür auf und stürzte in die winterliche Landschaft hinaus.
Karigan sank auf die Knie und ballte die Faust um den Mondstein. Mit zwei Schritten war Tante Stace neben ihr und nahm sie in die Arme.
DIE ÜBERLIEFERUNGEN DER INSEL
Karigans Tanten waren schon immer der Meinung gewesen, dass Essen gewöhnlich jedes Problem löste. Sie servierten ihr eine Schüssel mit Gans und Porreesuppe aus dem Kessel, der über einem Feuer leise vor sich hin köchelte. Dazu gab es Pfirsichmarmelade, Törtchen und süße Brötchen.
Tante Tory entkorkte eine Flasche Pfirsichbranntwein. Sie behauptete, dass Tee einfach nicht ausreichte, um den Kummer zu lindern, den ihr Bruder verursacht hatte, und nachdem sie Karigan ein wenig davon eingossen hatte, füllte sie ihr eigenes Glas fast bis zum Rand. Dann nahm sie einen langen Zug, den sie mit einem zufriedenen Seufzer beendete. Sie füllte ihr Glas erneut, während ihre Schwestern sie verblüfft und höchst missbilligend beobachteten.
Karigan dagegen saß am Tisch, den Kopf in den Händen vergraben, und ließ sich vom Feuer den Rücken wärmen. Sie hatte nicht den geringsten Appetit und hockte nur stumm da, während Tante Stace den anderen von der jüngsten Konfrontation mit ihrem Bruder berichtete.
»Wir sollten uns auf ihn draufsetzen«, meinte Tante Tory.
»Ich bin nicht sicher, dass das Karigan helfen würde«, antwortete Tante Stace.
»Sie könnte sich auch auf ihn draufsetzen. Je mehr, desto besser.«
Tante Gretta kicherte, und ihre Augen glitzerten schalkhaft.
»Er glaubt, ich sei verflucht«, sagte Karigan gequält.
»Nimm es dir nicht so zu Herzen, Kari-Mädchen«, sagte Tante Stace. »Er ist nur wütend, weil die Reitermagie dich ihm weggenommen hat. Er macht sich solche Sorgen um
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