Pfad der Schatten reiter4
Laren musste den Kopf in den Nacken legen, um dem Blick der größeren Frau zu begegnen. Unter Estoras Augen lagen Schatten. Sie hatte mit so vielem fertig werden müssen – mit dem Tod ihres Vaters, der Verletzung ihres Verlobten, der überstürzten Hochzeit und der Krönung.
Vom Bett kam ein leises Stöhnen. Laren leckte sich die Lippen und sehnte sich danach, an Zacharias’ Seite zu stürzen, aber da sie nicht wusste, was sie von dieser neuen Estora zu erwarten hatte, wagte sie es nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen.
»Sein Zustand hat sich kaum verändert«, sagte Estora. »Er brennt noch immer im Fieber und hat … Delirien. Die Heiler haben ihm etwas gegeben, das ihn entspannen soll. Aber bitte, gehen Sie zu ihm und sehen Sie nach ihm.«
Laren nickte und trat ans Bett. Zacharias war bleich, und auf seiner Haut glitzerten Schweißbäche. Sein Verband war frisch, und die Wunde roch nicht so, als sei sie entzündet. Sie strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. Seine Hand krallte sich immer wieder zusammen und ließ dann wieder los, als würde er nach einem Schwert greifen, und er gab ein Geräusch von sich, das wie ein Knurren klang.
»So geht das schon seit einer Ewigkeit«, sagte Estora. »Zumindest kommt es mir so vor.«
Laren warf der Frau, die nun Zacharias’ Gemahlin war, einen Seitenblick zu und sah echte Sorge und Angst. Sie hatte Estora immer gemocht und sie als bestmögliche Partnerin für Zacharias betrachtet. Die jüngsten Ereignisse hatten an ihrer Meinung absolut nichts geändert.
»Er kämpft«, sagte Laren. »Das ist es. Er kämpft.«
Ein Schluchzen durchbrach Estoras gefasste Maske, und dann noch eins, bis es zu einer Tränenflut wurde. Instinktiv nahm Laren die junge Königin in die Arme und redete sanft auf sie ein, beruhigende, unsinnige Worte, genau wie damals, als Melry gestürzt war und sich den Knöchel verstaucht hatte, und wie sie es immer mit Zacharias gemacht hatte, als er noch klein war und sein Bruder ihn schikanierte, und dann noch einmal, als er schon ein junger Mann war und seine Großmutter starb. Sie strich Estora über den Rücken und tröstete sie, bis das Schluchzen aufhörte und Estora sich aus der Umarmung löste und ihre Augen mit einem Taschentuch abtupfte.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Oh, Herrin«, sagte Laren, »Ihr habt in so kurzer Zeit so viel ertragen müssen.«
»Aber ich kann es mir nicht mehr leisten zusammenzubrechen.«
»Eine Krone macht einen nicht immun gegen Gefühle«, sagte Laren, »und das sollte sie auch nicht. Deshalb waren Isen und Zacharias so mitfühlende Herrscher. Zacharias ist es immer noch.«
Estora schniefte. »Heute sind meine Mutter und meine Schwestern mit dem Leichnam meines Vaters abgereist. Sie bringen ihn nach Hause, nach Coutre. Und … und natürlich muss meine Schwester darauf vorbereitet werden, den Platz meines Vaters einzunehmen. Ich … ich bin ganz allein. Ich habe niemand außer ihm.« Sie sah Zacharias an.
Laren konnte sich die schreckliche Einsamkeit gar nicht vorstellen. »Ich bin für Euch da«, sagte sie, »wann immer Ihr es wünscht, Königliche Hoheit.« Es war ein seltsames Gefühl, jemand anderen als Zacharias so anzusprechen.
»Das freut mich«, sagte Estora, deren Tränen nun versiegt waren, in einem anderen Tonfall. »Aber wie ich höre, haben Sie meine Heirat nicht gutgeheißen.«
Laren sank der Mut. Jetzt kam es. »Ich habe Eure Hochzeit gutgeheißen, wie sie vertraglich festgelegt war. Wenn eine Situation wie die jetzige auftritt, gibt es ein Protokoll, das vor zweihundert Jahren gesetzlich verankert wurde und dem wir zu folgen haben, ganz egal, wie sinnvoll uns eine Alternative auch erscheinen mag. Das bedeutet nicht, dass ich nicht bereit bin, Euch jetzt die Treue zu schwören, meine Königin.« Laren sank wieder auf die Knie.
Estora hob ihr Kinn und über ihr Gesicht huschten Schatten wie Schleier. »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte sie von oben herab.
Elgin stand mit verschränkten Armen ein paar Schritte vor Colin Dovekey und starrte ihn wütend an. Er erinnerte sich
noch an die Zeit, als dieser Mann nur eine einfache Waffe in der Leibwache der Königin Isen gewesen war. Colin war inzwischen ein wenig grauer geworden, aber immer noch unerschütterlich und kraftvoll.
Der Ratsherr blieb ruhig sitzen und beachtete Elgin nicht. Stattdessen überprüfte er Papiere, in denen er raschelnd blätterte.
Elgin war nicht ganz klar, was hier gespielt wurde, aber er
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