Pfad der Schatten reiter4
versteht mich«, sagte sie.
Er lag friedlich da und reagierte wie üblich nicht auf ihre Worte und ihre Gegenwart.
Die Entscheidung, die sie heute wegen Hauptmann Mebstone getroffen hatte, war nur eine von mehreren, die sie bereits seit ihrer Krönung hatte fällen müssen. Die Zeremonie war hastig und in bedrückter Stimmung über die Bühne gegangen, und jeder Würdenträger, den man in der Burg hatte finden können, war zugegen gewesen. Ihre Mutter und ihre Schwestern waren gerade noch lang genug geblieben, um Zeugen der Feier zu sein, bevor sie mit dem Leichnam ihres Vaters aufbrachen.
In gewisser Hinsicht war ihre Krönung ähnlich verlaufen wie ihre Hochzeit, nur mit dem Unterschied, dass sie diesmal keinen Mann heiratete, sondern eine Krone. Ihre Finger tasteten nach dem Diadem auf ihrem Kopf. Es passte nicht besonders gut, aber Colin hatte ihr versichert, dass der königliche Juwelier es ihr problemlos würde anpassen können.
Sie wusste, dass weitere Entscheidungen auf sie warteten. Bei einigen davon ging es um Leben und Tod, andere waren weniger wichtig. Sie war davon überzeugt, dass Cummings sehr wohl in der Lage war, in ihrem Namen das Krönungsbankett zu organisieren. Alles Übrige lag in Colins Händen. Er wollte ihr Zeit geben, sich an ihre neue Rolle zu gewöhnen
und den Schock über den plötzlichen Tod ihres Vaters zu verarbeiten.
»Wenn Ihr wüsstet«, flüsterte sie Zacharias zu.
Sie nahm ein Tuch, das in einer Schüssel mit kühlem Wasser eingeweicht lag, wrang es aus und tupfte ihm sanft den Schweiß vom Gesicht. Plötzlich flatterten seine Augenlider und öffneten sich, und er griff nach ihrem Handgelenk. Trotz seiner Krankheit besaß sein Griff eine enorme Kraft.
»Ich wollte sie anflehen, nicht zu gehen«, sagte er und seine Augen glänzten vor Fieber. Dann ließ er ihr Handgelenk los, murmelte noch etwas und fiel wieder in seinen unruhigen Schlummer zurück.
»Zacharias?«, rief sie. »Zacharias?« Aber er reagierte nicht.
Sie lehnte sich zurück und fragte sich, ob er aus einer Erinnerung oder einem Traum heraus gesprochen hatte, oder ob er einen Teil ihres Gesprächs mit Hauptmann Mebstone in sein Unterbewusstsein aufgenommen hatte.
Ihr Handgelenk trug noch immer die Abdrücke seines festen Griffs. Sie lockerte ihre Hand und griff nach dem Buch auf seinem Nachttisch. Manchmal sprach sie mit ihm, wie Meister Destarion empfohlen hatte, und erzählte ihm alles, was geschehen war. Sie sprach von ihrer Trauer und ihrer Hoffnung, dass ihnen eine leuchtende Zukunft bevorstand, sobald er wieder gesund war, und dass sie das Reich in Einigkeit und Frieden regieren würden und Kinder großziehen würden, die gesund und glücklich waren. Jede junge Braut wünschte sich diese Dinge, aber nur wenige Bräute waren gezwungen, die Herrschaft über etwas zu ergreifen, das über ihren eigenen Haushalt hinausging.
Es war Estora unangenehm gewesen, mit ihm zu sprechen, während sich Heiler um ihn kümmerten, deshalb hatte sie sich angewöhnt, Zacharias stattdessen etwas vorzulesen, und selbst wenn sie wie jetzt allein waren, merkte sie, dass ihr das Vorlesen
Spaß machte, denn es bot ihr eine Flucht aus all dem Durcheinander, das sie umgab. Sie hoffte, dass ihre Stimme Zacharias irgendwo tief im Inneren berühren und trösten würde. Auf ihren Wunsch hatte Meister Fogg, der Bibliothekar der Burg, ein Buch mit dem Titel Sagen der Seekönige aufgespürt.
Sie hatte ihm bereits die Geschichten von Marin der Gärtnerin vorgelesen, von der es hieß, sie sei eine Zauberin gewesen, die auf der Inselgruppe im Nordmeer lebte und sich am Wachstum der Natur erfreute. Ihr Garten bedeckte eine ganze Insel: Da gab es Wälder, Wiesen und Strände, und viele Wesen, die dort mit ihr lebten.
Die meisten Sagen über die Seekönige spielten im Nordmeer und auf seinen Inseln, und die nächste Geschichte, die sie aufschlug, war bei den Seeleuten besonders beliebt. Es ging um die Verführerin Yolandhe, die König Akarion an ihre Ufer lockte und nicht mehr fortließ. Als der Zauber verblasste, blieb Akarion aus Liebe trotzdem bei ihr, aber Yolandhe war unsterblich und Akarion sterblich. Des Ende der Geschichte war stets bittersüß.
Trotz ihrer Hinterhältigkeit war Yolandhe Estora aufgrund ihrer Einsamkeit immer sympathisch gewesen. Wenn sie die Sagen allerdings logisch betrachtete, gab es anscheinend auf fast allen Inseln Zauberinnen, und Seeleute landeten ständig aufgrund des einen oder anderen Zauberspruchs an
Weitere Kostenlose Bücher