Pfad der Schatten reiter4
ihren Gestaden.
»Die ist die Geschichte von Yolandhe und König Akarion«, las Estora Zacharias vor. »Sie berichtet, wie der König sich Yolandhes Liebe errang.« Viele Versionen dieser Sage waren sehr moralisch, und der Nachdruck lag darauf, dass Akarion Yolandhe gezähmt und ihr ihre Bosheit abgewöhnt hatte. Es würde interessant sein, ob diese Version demselben Schema folgte oder nicht.
Sie tat es nicht, sondern konzentrierte sich darauf, wie Yolandhe den König verführt hatte und erzählte, dass sie einander anschließend viele Jahre lang fast ununterbrochen körperlich geliebt hatten.
»Hören sie denn nie zwischendurch auf, um zu schlafen oder zu essen?«, fragte Estora, der es bei jedem Wort wärmer wurde, sodass sie sich mit dem Buch Luft zufächeln musste. »Wer hat das geschrieben?« Als sie nachsah, war der Autor mit »Anonym« angegeben.
Sie dankte den Göttern, dass niemand ihr beim Lesen zusah oder zuhörte, und dass selbst die Waffen ihr eine gewisse Privatsphäre einräumten und draußen vor der Tür Posten bezogen, wenn sie bei Zacharias war. Er blieb still und war noch immer bewusstlos. Die Geschichte von Yolandhe und Akarion hatte sie so erregt, dass sie sich wünschte, er würde aufwachen, sie in die Arme nehmen und sie lieben.
Wäre Zacharias in ihrer Hochzeitsnacht nicht so schwer verletzt gewesen, hätten sie den Ritus des Ehevollzuges bereits hinter sich, eine uralte Zeremonie, bei der Zeugen zugegen waren, um zu gewährleisten, dass das neue Königspaar sich an seine Aufgabe machte, Erben zu zeugen. Ihre Heirat war bereits gesetzlich bindend, aber einige Leute hielten sich noch an die alten Sitten und würden sie nicht anerkennen, bevor dieser Ritus stattgefunden hatte, und wenn sich ein Paar weigerte, verloren beide ihren Titel und wurden geächtet. Manchmal hatten Traditionen mehr Einfluss als das Gesetz.
Unter den gegebenen Umständen hoffte sie, dass man über die Notwendigkeit dieses Ritus hinwegsehen würde und sie sich ohne eine begierige Zuschauermenge mit Zacharias würde vereinigen können. Aber da ihr Vetter Richmont ständig von dem Ritus sprach, schien dies unwahrscheinlich. Sie wusste, dass er damit lediglich gegenüber allen einflussreichen Gruppen, einschließlich der konservativsten, ihren Status als Königin
dauerhaft zementieren wollte, wodurch seine eigene Autorität natürlich ebenfalls gefestigt wurde.
Sie schauderte bei dem Gedanken, den Geschlechtsakt vor allen möglichen bekannten und unbekannten Leuten vollziehen zu müssen. Sie nahm ihre Lektüre wieder auf, verbannte den Ritus des Ehevollzuges in den Hintergrund ihrer Gedanken und genoss die Ruhepause, wobei sie hoffte, dass ihre Stimme bis zu Zacharias durchdringen und ihm versichern würde, dass er nicht allein war.
Zacharias’ Boudoir entwickelte sich rasch zu Estoras Arbeitsraum. Cummings half ihr dabei, sich durch den steten Strom von Genesungswünschen und Beileidsbriefen zu arbeiten. Er sagte ihr, dass man kein Krönungsbankett abhalten würde, bevor nicht zumindest einige Lordstatthalter zugegen waren. Natürlich würde es nicht einfach werden. Es stand den Lordstatthaltern frei, die hastige Hochzeit und Krönung anzufechten, aber sie hoffte, dass Colin die Situation meistern und derartigen Konflikten vorbeugen würde. Hauptmann Mebstones Stubenarrest war nicht zuletzt deshalb notwendig gewesen.
Die Botschaft, mit der Colin die Grünen Reiter ausgesandt hatte, unterstrich Zacharias’ Wunsch, aus Zuneigung zu seiner Verlobten die Hochzeit vorzuziehen und erwähnte einen »Reitunfall«, der ihn dazu angeregt hatte, die Wichtigkeit einer unkomplizierten Machtübergabe neu zu überdenken, falls ihm etwas Schlimmes zustoßen sollte. Die Gerüchte, die in der Stadt und auch im Umland kursierten, hatten die Umstände des Unfalls bereits so verzerrt, dass es den Lordstatthaltern kaum gelingen würde, die Wahrheit herauszufinden. Inzwischen hatten Colin und seine Assistenten weitere Gerüchte darüber, was an jenem Nachmittag in den Straßen von Sacor-Stadt geschehen war, in Umlauf gesetzt. Der temperamentvolle Hengst des Königs war scheu geworden. Der König war gestürzt
und hatte sich verletzt. Er befand sich unter der Obhut der besten Heiler der Burg, und sein Zustand erlaubte es ihm zu heiraten.
Angeblich würden die offiziellen Feierlichkeiten stattfinden, sobald der König wieder gesund und die Lordstatthalter zugegen waren, aber man hörte jetzt schon Berichte, dass die Bürger der
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