Pfad der Schatten reiter4
weiter auf ihr Bein ein und kümmerte sich nicht um den brüllenden Schmerz, bis ihr klar wurde, dass dort gar keine Insekten waren. Kein einziges. Ein Trugbild? Sie hatte lediglich bewirkt, dass die Wunden wieder durch die improvisierten Verbände nässten.
»Karigan? Was ist los?« Yates tastete nach ihr und krallte seine Hand um ihren Arm.
»N… nichts. Ich dachte … ich habe mir nur etwas eingebildet.«
»Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Aber ja. Ich habe schlecht geträumt, oder vielleicht hat der Wald mir irgendwelche Trugbilder eingeflößt.«
Yates wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte, also saßen sie eine Weile schweigend da, während ringsum im Wald die ständigen Tropfen fielen. Endlich räusperte er sich. »Äh, meine Blase ist voll. Glaubst du, du könntest mir helfen, äh, irgendeinen geeigneten Platz zu finden?«
Karigan wollte nicht aufstehen. »Ich sage dir, wohin du gehen kannst.«
»Versprichst du mir, dass du mich nicht gegen einen Baum laufen lässt? Und dass ich in kein Loch falle?«
»Ich verspreche gar nichts«, antwortete sie mit einem schwachen Anflug von Humor. »Du wirst mir vertrauen müssen.«
»Es gibt niemanden, dem ich mehr vertraue als dir«, sagte Yates leise.
Eine klaffende Leere in Karigans Innerem schmerzte bei seinen Worten. Er vertraute ihr, er verließ sich darauf, dass sie ihm in seiner Verzweiflung beistehen und ihn sicher wieder aus dem Wald führen würde. Aber wenn sie jetzt schon Trugbilder sah, konnte sie sich nicht einmal mehr auf sich selbst verlassen. Wie sollte sie ihn beschützen, wenn sie selbst keinen Halt mehr hatte?
Sie holte tief Atem. Eins nach dem anderen. Schritt für Schritt wies sie ihn an, sich ein Stück zu entfernen und sagte ihm, wann er seinen Fuß heben musste, um eine Baumwurzel zu überqueren, und wann er einem Felsbrocken ausweichen musste. Als er einige Meter entfernt war, sah sie in die andere Richtung, damit er sich nicht beobachtet fühlte, während er
seine Bedürfnisse befriedigte. Bald musste sie sich auch um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern, wollte aber ihr Bein nicht bewegen. Sie betrachtete es immer wieder, um auszuschließen, dass sich Insekten darauf tummelten, seien sie nun real oder eingebildet.
Als Yates fertig war, leitete sie ihn zurück. Er blieb stehen. »Ich nehme an, es ist Morgen.«
»Es ist alles grau«, antwortete Karigan, »also ist die Nacht vorbei.«
»Meinst du immer noch, dass wir hierbleiben sollen?«
»Ja, falls die anderen nach uns suchen.«
Er nickte.
Und so begann ein Tag des Wartens, an dem sich der Nebel um sie herum ballte wie eine lebendige Masse, zwischen den Bäumen rollte und sie umkreiste. Karigan und Yates aßen ihre halben Rationen. Yates blieb eine Weile stehen, setzte sich dann und stand wieder auf, als wollte er weggehen, aber ein heruntergefallener Ast, über den er stolperte, überzeugte ihn davon, dass er sich nicht weit entfernen durfte. Das monotone Grau, das den ganzen Tag anhielt, wirkte so einschläfernd auf Karigan, dass sie sich mehr als einmal schütteln musste, um wach zu bleiben. Der Schmerz in ihrem Bein kostete Kraft, und sie fürchtete, dass die Absonderung der Dornen Gift enthalten hatte. Wie schlimm war es wohl? Es gab keine Möglichkeit, dies festzustellen.
Zumindest hatte sich niemand auf sie gestürzt, um sie aufzufressen. Vorläufig jedenfalls. Und es gab auch keine Spur der eingebildeten Insekten mehr, die sich an ihrem Bein gütlich taten. Sie klatschte sich auf den Nacken und berichtigte ihre Gedanken, denn die wirklichen Insekten taten sich sehr wohl an ihnen gütlich, Biss für Biss. Sie wunderte sich, dass diese Blutsauger im Schwarzschleierwald nicht schlimmer waren als auf der anderen Seite des Walls. Vielleicht waren
solche Schmarotzer von sich aus schlimm genug, sodass die pervertierte Magie des Schwarzschleiers sie nicht weiter beeinflusste.
»Sie kommen nicht zurück, um uns zu suchen, stimmt’s?«, sagte Yates ungefähr zum hundertsten Mal. Er stand mit dem Rücken zu ihr und starrte geradeaus, als könnte er seine Augen zum Sehen zwingen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Karigan. »Jedenfalls werden sie uns nicht finden, wenn wir im Wald herumstolpern.«
»Es sieht dir gar nicht ähnlich, einfach abzuwarten«, sagte er.
Wahrscheinlich hatte er recht, aber sie war von einer tiefen Lethargie erfüllt, und in diesem Fall schien Abwarten das einzig Vernünftige zu sein. Sie lachte.
»Was ist so komisch?«
»Ich dachte nur
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