Pfad der Schatten reiter4
den Stoff. »Das hat mit der Konsistenz zu tun.«
Tante Stace verdrehte die Augen. »Die Familie deiner Mutter«, sagte sie zu Karigan, »war auf der Insel im Allgemeinen recht angesehen, denn nicht jeder lehnte die Magie so rigoros ab wie unser Vater. Sicher, es gab einige, die deiner Großmutter Gray ins Gesicht lächelten und dann das Zeichen des Sichelmondes machten, sobald sie wegsah, und manche tuschelten auch über Hexen in der Familie und dergleichen Unsinn. Aber im Großen und Ganzen galten sie als gesetzestreue, produktive Mitbürger des Dorfes, die den traditionellen Sitten folgten.
Sie ließen an den Ruhetagen sogar die Tiraden des Mondpriesters über sich ergehen.«
»Warum hat mir nie jemand davon erzählt?«, fragte Karigan. Magie in der Familie ihrer Mutter?
»Du hast nie danach gefragt«, antwortete Tante Stace. »Und zweifellos hat unsere eigene Aversion gegen unsere Vergangenheit auf der Insel dazu beigetragen, dass wir nicht gern darüber sprachen. Aber um auf deinen Vater zurückzukommen: Er war so sehr in Kariny verliebt, dass er sowohl sie als auch ihre Familie jedes Mal verteidigte, wenn jemand irgendwelche Bemerkungen über ihre unheimliche Seite machte. Meist endete das dann in einer Schlägerei.«
»Grün und blau geschlagene Augen und blutige Nasen«, unterstrich Tante Brini mit einem heftigen Nicken.
»Ganz zu schweigen von den Prügeln, die er außerdem von unserem Vater bezog«, sagte Tante Stace, »denn der glaubte alle diese Geschichten über die Grays, und Stevics Interesse an der jüngsten Tochter gefiel ihm gar nicht. Wenn er ihren Namen aussprach oder auch nur in ihre Richtung schaute, gab’s immer gleich die Rute.«
»Was Stevic natürlich nicht im Geringsten davon abhielt«, sagte Tante Gretta. »Eines Abends sah unser Vater, wie Stevic für Kariny irgendein Paket vom Dorfmarkt schleppte. Die Prügel, die er dafür bekommen hat – es war einfach grausam. Danach hat er die Insel verlassen.«
»Er versprach, zurückzukehren und Kariny zu holen«, sagte Tante Tory, »sobald er eine Arbeit gefunden und seinen Weg in der Welt gefunden hatte. Wir hatten keine Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, aber aufgrund seiner Liebe zu Kariny hielt er sein Versprechen. Er kam zurück und segelte mit ihr weg. Bald danach sind wir ihm gefolgt.«
»Kariny zweifelte nie an ihm«, sagte Tante Gretta nachdenklich, und die anderen nickten zustimmend.
»Und das bringt uns auf dich zurück«, sagte Tante Stace. »In Anbetracht deines eigenen Anflugs von magischem Talent glauben wir, dass die Überlieferungen über Karinys Familie nicht einfach nur Geschichten waren, wie sie behauptete. Du hast diese etwas unheimliche Seite von ihr geerbt.«
Karigan war selbst bereits zum gleichen Schluss gekommen. Es ergab Sinn. Wie sollte sie sonst ihre Reiterberufung und ihre bescheidenen magischen Fähigkeiten erklären? Woher hätten sie sonst kommen sollen?
Sie fragte sich, wie mächtig ihre Vorfahren wohl gewesen sein mochten, aber sie war sicher, dass ihre Tanten es ihr erzählt hätten, wenn sie es gewusst hätten – wenn die Überlieferungen der Insel etwas Konkreteres enthalten hätten. Vielleicht waren ihre Fähigkeiten sehr bescheiden gewesen, genau wie bei Karigan, und sie hatten unter der Oberfläche geschlummert, inaktiv, bis sie durch irgendetwas geweckt wurden. Karigans Fähigkeiten waren durch ihre Reiterberufung aufgeflammt. Die Brosche der Grünen Reiter, die sie trug, ein geflügeltes Pferd, hatte ihre Fähigkeit verstärkt, zu verblassen – sie konnte fast durchsichtig werden –, bis sie scheinbar verschwand.
Sie strich mit den Fingern über ihre Brosche, das Gold war glatt und kühl. Wahrscheinlich sahen ihre Tanten ein ganz anderes Schmuckstück oder sogar überhaupt nichts, denn man hatte über alle Broschen schon vor langer Zeit einen Tarnzauber gelegt, sodass nur die Reiter selbst sie korrekt wahrnehmen konnten.
»Dein Vater«, sagte Tante Stace, »liebt dich. Er liebt dich innig. Er hat vorhin einfach unbedacht gesprochen.«
Trotz der Versicherung ihrer Tante taten die Worte ihres Vaters immer noch weh. Karigans Hand fand den Mondstein in ihrer Tasche. Sie nahm an, dass ihr Vater in Bezug auf ihre Mutter vieles verdrängt hatte. Vollkommen, hatte er sie genannt. Unberührt von der Korruption der Magie.
Karigan schüttelte den Kopf und dachte, dass sie vielleicht einfach ihre Sachen packen und die Rückreise nach Sacor-Stadt antreten sollte. Es war ein Fehler gewesen,
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