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Pfad der Schatten reiter4

Pfad der Schatten reiter4

Titel: Pfad der Schatten reiter4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: britain
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zu nehmen, falls seine dunkle Seite erneut zum Vorschein kam.

DER ROTE VOGEL
    »Sehr gut«, sagte Großmutter, als Lala ihr den Knoten aus rotem Garn zeigte. »Du hast eine Naturbegabung für unsere Kunst.«
    »Lala guuut!«, rief Gubba. Die alte Erdriesin saß auf der anderen Seite des Feuers und strahlte sie mit ihrem zahnlosen Grinsen an.
    Großmutter hatte sich angewöhnt, Lala abends, wenn sie sich von ihrer Reise durch den Wald ausruhten, weiter in die Kunst einzuweihen, die sie selbst einst von ihrer Mutter und Großmutter gelernt hatte. Der Schutz, den die Erdriesen ihnen gewährten, hatte Großmutter einen Teil ihrer Verantwortung abgenommen, und nun waren sie es, die sie und ihre Leute weiterführten. Die Erdriesen versorgten sie außerdem mit Frischfleisch und Trinkwasser, und sie waren dadurch alle schon wieder kräftiger geworden. Verglichen mit dem Beginn ihrer Reise fühlte sich Großmutter jetzt geradezu entspannt und konnte sich die Zeit nehmen, Lala zu unterweisen.
    Wenn Lala doch nur hätte sprechen können. Ohne Sprache blieben ihr viele Zaubersprüche verwehrt.
    Die Behinderung ihrer Enkelin hatte sie schon immer traurig gemacht, aber jetzt war sie darüber wütend. Sie wollte, dass Lala die Kunst ihrer Ahnen weiterführte, dass sie eine eigene Stimme besaß. Wenn Großmutter ihre Seele schließlich Gott zurückgeben würde, wie es alle Sterblichen tun mussten, wer würde dann die Kunst für das Zweite Reich weiterführen?

    Und dann war da die Musik, das ständige Fließen einer fast unirdischen Stimme, die manchmal in ihren Geist eindrang und deren Ursprung sich irgendwo am Wall befand. Ihre Macht schien sie zu verhöhnen und machte es noch schwieriger, sich mit Lalas Stummheit abzufinden. Sie hatte entschieden, dass es höchste Zeit war, deshalb etwas zu unternehmen. Sozusagen zu einem Gegenschlag auszuholen. Und deshalb saßen sie nun hier, und Lala knüpfte einen ganz besonderen Knoten.
    Großmutter prüfte ihn kritisch und suchte nach Fehlern, aber er war ausgezeichnet ausgeführt und enthielt sogar einige Extraknoten, die ein Ausdruck von Lalas Persönlichkeitwaren. Es handelte sich schließlich um eine Kunstform. Das Mädchen besaß die Veranlagung dazu, und Großmutter wünschte jetzt, sie hätte ihr schon längst viel mehr beigebracht.
    »Du verstehst den nächsten Schritt?«, fragte sie.
    Lala nickte und hob das Messer auf, das auf der Decke zwischen ihnen lag.
    »Vergiss nicht, deine Absicht hineinfließen zu lassen.«
    Lala schloss die Augen und sah nun wesentlich älter aus, als sie tatsächlich war, sogar trotz des Schmutzes, der ihr Gesicht bedeckte. Mit einer einzigen schwungvollen Bewegung zog sie die Klinge über ihre Handfläche. Großmutter packte ihr Handgelenk und drückte das verknotete Garn in die Wunde, damit es das Blut aufnehmen konnte. Lala umkrallte es mit ihren Fingern. Sie hätten auch abgeschnittene Fingernägel oder eine Haarlocke Lalas für den Zauber benutzen können, aber nichts war so mächtig wie frisches Blut.
    Großmutter sprach die Worte der Macht, Worte, die so uralt waren wie die Wurzeln des Reiches, mit einer singenden Stimme, und durch Lalas Finger schimmerte ein rotes Glühen.
    Gubba, die an die Unvorhersehbarkeit des Äthers im Schwarzschleierwald gewöhnt war, sang kontrapunktisch dazu,
um sie vor einem möglicherweise vernichtenden Gegenschlag zu schützen.
    Als Großmutter fertig war, flackerte die Glut, die in Lalas Hand gefangen war, wie feurige Flammen in ihrem Gesicht.
    »Lass den Sucher frei«, sagte Großmutter.
    Lala öffnete behutsam ihre zur Faust geballten Finger, und die Glut blühte auf. Dann verwandelte sie sich in einen roten Vogel, der auf ihrer blutigen Handfläche saß. Das restliche Funkeln kroch in sein Gefieder, als er sich putzte.
    Welche Detailgenauigkeit! Großmutter betrachtete ihn ehrfurchtsvoll. Von der schwarzen Maske seines Gesichts bis zu seinem Kamm glich er in allen Einzelheiten seinem realen Original. Das gute Mädchen hatte mehr als einen Sucher erschaffen  – es hatte die Kunst als solches auf ein höheres Niveau erhoben. Allein die Ästhetik enthüllte eine größere Meisterschaft, als andere Begabte sie im ganzen Leben erreichten. Die Kunst sollte mehr als nur ein Werkzeug sein, dachte Großmutter. Allzu oft hatte sie sie nur als Mittel zum Zweck benutzt und vergessen, welche Schönheit darin lag.
    »Gut gemacht, Kind, gut gemacht.«
    Alle anderen Leute im Lager hielten inne, um Lalas Schöpfung zu

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