Pfad der Schatten reiter4
und ihre Zinnen wurden von den Wolken verhüllt, die dort oben hingen. Das graue Tageslicht war gerade noch hell genug, dass sich die Türme im See spiegelten.
»Was ist das für ein Ort?«, flüsterte Min ehrfurchtsvoll.
»Unser Ziel«, antwortete Großmutter. »Schloss Argenthyne.«
SPIRALEN UND STIMMEN
Graelalea führte die Gruppe unbarmherzig weiter über das zerklüftete Terrain, bis sie plötzlich am Rand einer Klippe stehen blieb, wo sich der Wald öffnete und einen See enthüllte, der unter ihnen lag. Karigan fand, dass er wie ein Buchenblatt oder eine Speerspitze geformt war. Wolken verhüllten das gegenüberliegende Ufer.
»Der Teich von Avrath«, sagte Ealdaen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn wiedersehen würde. Aber er ist dunkel, verunreinigt.«
»Was siehst du?«, flüsterte Yates Karigan zu.
»Vor uns liegt ein Tal mit einem See«, antwortete sie.
»Das musst du dir für die Chronik merken.«
»Das werde ich.« Wenn sie ehrlich war, würde sie vermutlich später, wenn sie für die Nacht rasteten, so erschöpft sein, dass sie einschlafen würde, bevor sie sich mit der Chronik befassen konnte.
»Was ist das da in der Mitte des Sees?«, fragte Ard.
Karigan konnte die Einzelheiten nicht erkennen, dazu war es zu weit weg, aber irgendeine Felsformation ragte aus dem Zentrum des Sees. Die Form wirkte zu regelmäßig, als dass sie auf natürliche Weise entstanden sein konnte.
Ealdaen, dessen eletische Sehfähigkeit größer war, sprach wütend in seiner eigenen Sprache. Alle Eleter blickten zornig drein.
»Was ist los?«, fragte Karigan.
»Es ist der Böse«, sagte Lhean. »Eine Statue von Mornhavon.«
»Er hielt sich selbst für einen Gott«, fauchte Ealdaen. »Der Gott aller, und er wusste genau, was es für unser Volk bedeutete, in diesem See seine Statue zu errichten.«
»Was bedeutet es denn?«, fragte Yates, aber die Eleter gingen bereits weiter, und Lynx nahm Yates Hand, um ihn wegzuführen.
Karigan erinnerte sich, wie sie in der Bibliothek des Goldenen Wächters in Selium gegessen hatte. Aaron Fiori hatte von Avrath gesungen, einem leuchtenden Land. Er hatte Avrath für einen rein spirituellen Ort der Eleter gehalten. Vielleicht glaubten die Eleter, dass Avrath so etwas wie der Himmel sei und dass er sich in dem See spiegelte. Aber welche Bedeutung der See auch für sie haben mochte, eine Statue Mornhavons, die aus seinem Zentrum emporragte, verletzte sie anscheinend tief.
Bald blieb sie wieder hinter den anderen zurück, und da sie nicht mit Ard allein sein wollte, brachte sie ihren erschöpften Körper dazu, schneller vorwärtszugehen. Dann hielt sie inne. Der Nebel am anderen Ufer lichtete sich gerade genug, um die Spitzen hoher Türme zu enthüllen, die sich über die Bäume erhoben. Sie glänzten matt. Bevor die Wolken sie wieder verhüllten, leuchteten sie einen Moment lang in kristallener Klarheit auf, wie vielleicht vor langer, langer Zeit unter einem silbernen Mond. Dann erstarb das Licht, und die Türme verschwanden im Nebel.
Karigan zwinkerte, und eine Gänsehaut überlief ihre Arme. Hatte sie sich das wieder eingebildet? Lag es am Gift? Eines war ihr klar, als sie hinter den anderen herging: Auf der anderen Seite des Sees lag das legendäre Schloss Argenthyne.
Der Pfad senkte sich in vielen scharfen Kehren, was bedeutete, dass Karigan nie weit von den anderen entfernt war, obwohl
sie zurückblieb. Ard wanderte nun in der Mitte der Reihe und unterhielt sich leutselig mit Solan. Von seinem seltsamen Verhalten auf der Geröllhalde mit den Findlingen war keine Spur geblieben, und sie zuckte die Achseln. Eigentlich war es erstaunlich, dass der Schwarzschleierwald nicht die gesamte Gruppe dazu brachte, sich seltsam zu benehmen.
Als sie ebenen Boden erreichten, war es dunkel geworden und über ihren Köpfen flatterten übergroße Fledermäuse durch die Luft.
»Wir werden heute Nacht hier lagern«, sagte Graelalea. »Morgen halten wir erst an, wenn wir den Hain erreicht haben.«
Während das Lager aufgeschlagen wurde, spürte Karigan, wie erregt und aufgewühlt Graelalea war. Sie hatte den Verdacht, dass die Eleterin, wenn sie allein gewesen wäre, wahrscheinlich ohne Anzuhalten bis zum Hain weitergegangen wäre, aber sie nahm Rücksicht auf den Zustand ihrer Reisegefährten. Es wäre unsinnig gewesen, dem Hain und dem, was sie dort erwarten mochte, in völliger Erschöpfung die Stirn zu bieten.
»Was passiert, wenn wir den Hain erreichen?«, wollte Grant wissen.
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