Pfad der Schatten reiter4
bestaunen. Der rote Vogel schlug mit den Flügeln, als wollte er davonfliegen. Ohne weitere Anleitung warf Lala den Vogel in die Luft. Er breitete seine Flügel aus und kreiste einmal über ihren Köpfen, bevor er eine nördliche Richtung einschlug. Er würde den kürzesten Weg nehmen und den unbekannten Sänger finden.
Als der Vogel in der nebligen Nacht verschwand, klatschte Gubba in die Hände und gluckste. Großmutter wandte ihre Aufmerksamkeit der Pflege von Lalas blutender Wunde zu.
Trotz der vielen Dinge, die die Erdriesen Großmutter und ihren Leuten zu Verfügung stellten, war das endlose Gehen
ermüdend. Großmutter wünschte sich, sie hätte Flügel und könnte fliegen wie Lalas roter Vogel. Leider war sie jedoch an die Erde gebunden, genau wie alle anderen Landbewohner, und musste sich abmühen, wollte sie ein Ziel erreichen, während die Vögel einfach alle Hindernisse überflogen. Zumindest boten die Ruinen, die nun immer öfter am Straßenrand auftauchten, etwas Abwechslung und wiesen außerdem darauf hin, dass sie sich ihrem Ziel näherten.
Die meisten Ruinen waren von Ranken und Wurzeln bedeckt. Durch die Dächer wuchsen Bäume. Farne und Gebüsch überwucherten Eingänge und Fassaden. Der Wald war wirklich unverwüstlich und verbarg sogar den architektonischen Stil – war er eletisch oder entstammte er dem Reich? Sie hielten nicht an, um die Ruinen näher zu untersuchen, aber Gubba, die neben Großmutter herging, plapperte unentwegt und wies auf dieses und jenes hin, als wäre das Ganze lediglich ein vergnüglicher Ausflug, um die Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Großmutter verstand kein Wort davon.
Also ignorierte sie Gubba und dachte an die Aufgabe, die sie erfüllen musste, sobald sie ihr Ziel erreichten. Wie sollte sie die Schläfer wecken? Sie erhielt keine Antwort, sooft sie auch darum betete. Sie vermutete, dass es eine Prüfung war, die Gott ihr auferlegt hatte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich bisher vor allem Sorgen darüber gemacht, ob die überhaupt lange genug leben würden, um den Hain der Schläfer zu erreichen. Durch die Hilfe der Erdriesen wurde ihr ein Großteil dieser Sorgen abgenommen, sodass sie nun Zeit hatte, sich zu überlegen, auf welche Weise sie eigentlich versuchen sollte, die vor ihr liegende Aufgabe zu lösen.
Sie verstand weder die Eleter, noch die Art und Weise ihres Schlafs. Sie wusste lediglich, dass man sie nur mithilfe einer äußerst mächtigen Kunst wecken konnte. Ob sie wohl dazu in der Lage sein würde?
Sie war tief in Gedanken versunken gewesen, hatte Gubba völlig ignoriert und nur auf die Straße dicht vor ihren Füßen gestarrt, sodass sie erschrak, als sie mit Sarat zusammenstieß, die mitten auf der Straße stehen geblieben war. Tatsächlich waren auch alle anderen stehen geblieben, um etwas anzustarren, das vor ihnen lag, und als sie den Grund dafür erkannte, schnappte sie nach Luft.
Der Wald wich zurück und enthüllte einen schwarzen See, über dessen flachem, öligem Wasserspiegel sich Nebelfäden kräuselten. Freudige Erregung durchfuhr sie, als sie die Statue Mornhavons des Großen entdeckte, der herausfordernd und mutig in der Mitte des Sees stand. Eine Hand lag auf seinem Schwertknauf, die andere war zur Faust geballt, als wollte er allen zeigen, wem das Reich in Wahrheit gehörte und auf welche Weise es erobert worden war. Die Einzelheiten seiner Züge waren verwittert und mit Moos bedeckt. Irgendwann hatte sich der Wasserspiegel des Sees gehoben, sodass er nun seine Knie berührte. Großmutter hatte den Eindruck, dass er nicht versank, sondern sich aus dem Wasser erhob. In den Ufergewässern des Sees bezeugten die Dächer versunkener Gebäude ebenfalls den Anstieg des Wasserspiegels.
Eines der großen schwarzen Flugwesen des Waldes, die Großmutter schon von Ferne gesehen und gehört hatte, flog dicht über das Wasser hinweg und zog eine Spur kleiner Wellen hinter sich her. Das Wesen umkreiste die Statue und landete schließlich auf Mornhavons Kopf. Es stieß ein Kreischen aus, das tief in Großmutters Innerem widerhallte, und wandte den Kopf auf seinem schlangenartigen Hals in alle Richtungen, um seine Umgebung zu betrachten.
So großartig das Denkmal auch war – das wirklich Erstaunliche war der Hintergrund. Türme ragten aus dem Wald in den Himmel, bleiche Gespenster dessen, was sie einst gewesen sein mussten, aber dennoch ein mächtiger Anblick: Ihre schlanken
Formen wuchsen aus der Erde wie anmutige Baumstämme,
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