Pfad der Schatten reiter4
gegenüber allen möglicherweise in den Ruinen verborgenen Gefahren. Krallen kratzten über Gestein, und eine Ratte, die viel größer war als alle Wasserratten, die Karigan je zuvor gesehen hatte, huschte vor ihnen über die Straße und verschwand in einem Schutthaufen.
Trotz der Vision, die sie damals im Spiegel des Mondes gesehen hatte, fiel es Karigan schwer, sich die Stadt lebendig und voller Eleter vorzustellen. Man konnte sich kaum vorstellen, dass früher so viele Eleter in diesem Land gelebt hatten. Irgendwie hatte Mornhavon sie mit seiner ungeheuren Macht völlig überwältigt.
Sie betrachtete Ealdaen, der mit gestrafften Schultern voranging, während die Spitzen an den Schulterplatten seiner Rüstung im Licht aufblitzten. Er spähte ständig nach allen Seiten, und seine Gesichtsmuskeln waren angespannt. Ob er sich an die letzten Augenblicke in Argenthyne erinnerte, als er vor Mornhavons Armeen und ihren Waffen geflohen war? Ganz bestimmt sogar. Wie er es wohl empfand, die Stadt nach so vielen Jahrhunderten völlig zerstört wiederzusehen? Genauso, wie sie es empfunden hätte, wenn dies Corsa oder Sacor-Stadt gewesen wäre. Er war verzweifelt, nicht so sehr aufgrund der verbliebenen Ruinen, sondern aufgrund der verlorenen Zivilisation, der sie entstammten.
Als sie ihre Reise begonnen hatten, war sie Ealdaen gegenüber sehr misstrauisch gewesen. Schließlich hatte er einmal
versucht, sie umzubringen, und sie vertraute ihm noch immer nicht ganz, obwohl sich innerhalb der Gruppe inzwischen eine enge Überlebensgemeinschaft entwickelt hatte, die alle persönlichen Feindseligkeiten in den Hintergrund rückte. Bisher jedenfalls. Seit sie gesehen hatte, wie die Stadt auf ihn wirkte und wie er auf die Überreste von Telavalieth reagiert hatte, erschien er ihr längst nicht mehr so kalt und distanziert.
Die Türme, die Teil des Schlosses gewesen waren, lagen weiterhin rechts von ihnen; ihre Spitzen tauchten ab und zu im Nebel auf und verschwanden dann wieder. Während Karigan sich weiterschleppte, hörte sie erneut die Stimme der Stadt, diesmal in Form eines traurigen Gesangs.
Bald verstand Karigan, was Ealdaen gemeint hatte, als er sagte, er kenne hier jede »engste Windung«. So weit sie sehen konnte, gab es keine einzige Straße, die einer geraden Linie folgte. Die hiesigen Straßen stellten sogar den Kurvenweg von Sacor-Stadt in den Schatten.
Sie folgten endlosen Kurven, aber immer wenn sie dachte, dass sie nun bestimmt einen Kreis beschrieben hatten, kamen sie an eine Kreuzung und wandten sich in eine völlig andere Richtung. Waren die eletischen Straßenbauer geistesgestört gewesen? Nun ja, sie waren schließlich Eleter , und obwohl Karigan nun schon so lange und so weit mit einigen Eletern gereist war, hätte sie nicht behaupten können, dass ihre Art ihr weniger geheimnisvoll erschien als am Anfang der Reise. Es war zum Verrücktwerden, ständig fast im Kreis gehen zu müssen, denn wären die Straßen gerade gewesen, hätten sie ihr Ziel wesentlich schneller erreicht. Das Ganze erinnerte sie an einen jener frustrierenden Träume, in denen sie einen bestimmten Ort, an dem sie eine Aufgabe zu erfüllen hatte, trotz aller Bemühungen nicht erreichen konnte.
So weit sie sehen konnte, wäre es unmöglich gewesen, sich
quer durch die Ruinen eine Abkürzung zu suchen – zumindest keine, die aussah, als wäre sie einigermaßen sicher, und die Eleter hatten offenbar ohnehin kein Verlangen danach, so etwas zu versuchen. Sie schienen entschlossen, ihrem Weg weiterhin zu folgen, auch wenn er sie andauernd im Kreis führte.
»Die Nythlinge mögen keine spiralförmigen Straßen«, brummte Grant vor sich hin. »Die mögen sie absolut nicht.«
Abgesehen von Grant schien niemand beunruhigt zu sein, also zuckte Karigan die Achseln und entschied, dass die Eleter bestimmt wussten, was das Beste war, und dass sie sich darüber keine Sorgen machen sollte.
Sie glaubte aber immer noch, dass die Straßenbauer geistesgestört gewesen waren. Oder vielleicht betrunken. Betranken sich Eleter überhaupt?
Diese Überlegungen amüsierten sie und hielten ihr die vereinzelten maskierten Tänzer vom Leib. Sie lenkten sie auch von dem Schmerz ab, der ihr Bein bei jedem Schritt durchzuckte, und von dem trüben Dunst, der tief über der Stadt hing, während sie ein totes Stadtviertel nach dem anderen durchquerten.
Sie konnte die Stimme der Stadt nicht ausblenden. Manchmal war sie wie ein Strom, der zähflüssig und unsichtbar
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