Pfad der Schatten reiter4
erschien wie zur Antwort ein haarfeiner Saum, der die ganze Rundung umspannte und die beiden Hälften voneinander trennte wie die Schalen einer Muschel. Sie leckte ihre aufgesprungenen Lippen und hob die Hälfte an, die das Gesicht bedecken sollte. Sie bewegte sich an verborgenen Scharnieren.
Das Innere der Maske war ebenfalls ein Spiegel. Es gab weder eine Polsterung noch Riemen, um sie auf dem Kopf des Trägers festzuhalten. Sie sang ihr in die Ohren, sie drängte sie, sie aufzusetzen. Karigan hob die Maske, sodass sie durch den Gesichtsteil blicken konnte, und dann hätte sie sie beinah fallen lassen. Nach einer winzigen Bewegung ihres Handgelenks klappten die beiden Hälften mit einem deutlichen Klicken wieder zu, und der Saum verschwand.
»Was haben Sie gesehen?«, fragte Ealdaen.
Karigans Herz trommelte wild. »Das Universum«, flüsterte sie.
In diesem Augenblick peitschte ein Windstoß durch eines der Portale, und das Schloss schien aufzukreischen. Viele Blätter wurden vom Baum gefetzt, die übrigen samt den Ästen herumgeschleudert wie gezückte Dolche. Eines davon schnitt
Karigan in die Wange, als es vom Baum flog. Warmes Blut strömte heraus. Die Wände der Kammer verdunkelten sich, das Schloss war verwundet.
Karigan wusste, warum; sie wusste, was sich verändert hatte. Sie hatte Mornhavon den Schwarzen in sich getragen. Sie wusste, wie er sich anfühlte. Ein Übelkeit erregender Dunst senkte sich über sie. Endlich war seine Zeitspur mit der ihren verschmolzen. Sie hatte ihn nicht weit genug in die Zukunft getragen.
Sie wandte sich an Ealdaen. »Es ist …«
»Ich weiß«, antwortete er.
Der Mahlstrom endete genauso plötzlich, wie er begonnen hatte. Die am Baum verbliebenen Blätter rasselten und schlugen klingelnd aneinander. Diejenigen, die auf dem Boden lagen, sahen aus wie Scherben eines zerbrochenen Spiegels.
Karigan spähte im Raum umher und versuchte, Mornhavon aufzuspüren. Er war da, aber gut getarnt.
»Was ist los?«, fragte Lynx. »Was ist passiert?«
»Mornhavon der Schwarze ist hier«, antwortete Karigan, die ihn immer noch nicht entdecken konnte. Er besaß keine eigene körperliche Gestalt, aber er konnte andere benutzen. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihre Kameraden an, aber die sahen sich alle furchtsam um.
»Vielleicht sollten wir von hier weggehen«, sagte Lhean.
»Vor ihm kann man nicht fliehen«, antwortete Ealdaen. »Er ist der Meister des Waldes.«
»Sollen wir etwa einfach abwarten?«
Durch Karigans Kopf jagten die verschiedenen Möglichkeiten. Vielleicht konnte sie Mornhavon erneut in die Zukunft tragen, wenn sie ihn wieder in sich hineinließ wie damals. Sie schluchzte fast, als sie sich erinnerte, was für eine Vergewaltigung das gewesen war. Und wie sollte sie ohne die Hilfe des Ersten Reiters in die Zukunft reisen? Könnte sie
zur Monduhr zurückkehren und ihn dort in ein Zeitmaß der Zukunft bringen? Waren die Monduhren überhaupt dazu fähig, oder führten sie nur in die Vergangenheit? Wenn sie Schwellen überqueren konnte, dann konnte sie doch bestimmt auch …
»Kann ich mir die Maske ansehen?«, fragte Yates.
»Was?«
»Die Spiegelmaske. Ich würde sie gern einen Augenblick haben.«
»Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Moment dafür ist.« Trotzdem hatte sie sonderbarerweise das starke Gefühl, dass sie sie ihm geben sollte. Sie ging einen Schritt auf ihn zu, und dann noch einen. Er streckte die Hand aus, um die Maske entgegenzunehmen. »Nein«, sagte sie, aber ihr Widerstand schmolz, und sie ging noch einen Schritt vorwärts.
Sie sah die Maske an, die Yates’ Spiegelbild zeigte, und auch die schwarze, wolkige Aura, die über ihm hing. »Oh Yates«, murmelte sie und konzentrierte ihren Willen darauf, ihm zu widerstehen.
»GIB MIR DIE MASKE.« Jetzt gab es keine Verstellung mehr. Yates’ Körperhaltung veränderte sich und eine Hölle brannte in seinen Augen. Seine Wangen röteten sich.
Karigan kämpfte gegen den Zwang an, und es gelang ihr, stehen zu bleiben. Sie hörte, wie Schwerter aus den Scheiden gezogen wurden.
»Nein«, sagte sie zu den anderen. »Es hat keinen Zweck, ihn anzugreifen.«
»Das stimmt«, sagte Mornhavon mit Yates’ Stimme, aber in einem ganz anderen Tonfall. Da gab es keinen Humor, keine Leichtigkeit. Nur Grausamkeit. »Ich werde euch diesen Grünen Reiter zurückgeben, wenn du mir die Maske gibst.«
»Tu es nicht«, sagte Lynx. »Yates würde das nicht wollen.«
»Es wäre nicht weise«, fügte Ealdaen
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