Pfad der Schatten reiter4
wusste nur noch, dass ihre Mutter nicht mehr da gewesen war, dass die
Leute um sie herum düstere Farben getragen und mit gedämpften Stimmen gesprochen hatten, und dass sämtliche Fenster und Spiegel verhängt worden waren, sodass das ganze Haus ständig dunkel gewesen war.
Der Grabhügel war von Eis überzogen. Am Tag nach dem Sturm hatte die Sonne so hell und warm geschienen, dass der Schnee geschmolzen war, aber in der Nacht war er wieder gefroren und hatte eine Eisschicht gebildet, die über den Steinen lag wie ein Wasserfall, für den die Zeit stillstand.
Neben dem Grabhügel erhob sich ein Monolith aus Granit, der aussah, als hätte man ihn aus den Tiefen der Erde heraufgezerrt. Der Name ihrer Mutter war darin eingemeißelt, und dazu die Inschrift: Eine Frucht der Insel, umfangen von den sternenerleuchteten Himmeln. Das Zeichen des Sichelmondes krönte die Inschrift, und die Oberfläche des Steins war mit einem schleifenähnlichen Muster geschmückt, das Karigan an Fischerknoten denken ließ. Das Muster stellte die Kontinuität dar: kein Anfang, kein Ende.
Karigan hielt den Mondstein in der Hand; sein Leuchten war in der Sonne gedämpft, aber sein inneres Glühen war trotzdem strahlend hell. Sie hatte das Haus von oben bis unten durchsucht, weil sie gehofft hatte, weitere Hinweise auf die Beziehung ihrer Mutter zu den Eletern zu entdecken, aber sie hatte nichts gefunden. Wahrscheinlich hatte jeder Mensch Geheimnisse, selbst ihre Mutter, die die ihrigen mit ins Grab genommen hatte.
Sie überlegte, ob sie den Mondstein als eine Art Opfergabe auf dem Grabhügel zurücklassen sollte, aber irgendetwas in ihrem Inneren sträubte sich gegen diesen Gedanken. Schließlich hatte ihre Mutter gewollt, dass sie ihn bekam, und sie wollte Karinys Wünschen nicht entgegenhandeln. Sie steckte ihn wieder in die Tasche.
Schließlich küsste sie ihre Fingerspitzen, berührte damit
einen der eisigen Steinbrocken des Grabhügels und ging dann über den von Wald gesäumten Pfad zum Haus zurück.
Gerade als sie ankam, führte ein Stallmeister den gestriegelten und gesattelten Kondor zur Auffahrt. Der Wallach nickte freudig, als er sie sah, und war sichtlich begierig aufzubrechen.
»Er ist ein Prachtkerl«, sagte der Stallmeister, als sie näher kam. »Er wird mir fehlen.« Kondor stupste ihn spielerisch an und stieß ihn beinahe um. Karigan grinste.
Ihr Vater, prächtig in einen langen Bibermantel gekleidet, und ihre Tanten kamen aus dem Haus, um sich von ihr zu verabschieden. Karigan umarmte sie, eine nach der anderen.
»Bist du ganz sicher, dass du schon abreisen musst?«, fragte Tante Stace.
»Ich glaube, ich habe meinen Aufenthalt ohnehin schon so lange ausgedehnt, wie ich konnte«, antwortete Karigan. »Ich muss zum Dienst zurück.«
»Also dann, vergiss uns nicht«, sagte Tante Brini.
»Aber nein. Natürlich nicht.«
Tante Gretta tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch ab. »Du musst uns jeden Tag schreiben.«
»Ähm, ich werde es versuchen.« Karigan schnitt eine Grimasse. Sie hatte nicht gerade den Ruf einer eifrigen Briefschreiberin.
»Ach, hör auf zu flennen, Gretta«, sagte Tante Tory. Sie nahm Karigans Hand. »Hör mal, Liebes, da gibt es einen netten jungen Mann aus guter Familie in der Nähe von Bellmere, von dem wir meinen…«
»Nein!« Karigan wich vor ihrer Tante zurück. »Ich will nicht verkuppelt werden!« Allzu deutlich erinnerte sie sich an das Fiasko des letzten entsprechenden Versuchs ihres Vaters.
»Wenn du jeden Mann ablehnst, den wir dir präsentieren, wirst du so enden wie wir – allein und ohne Ehemann.«
»Ich finde das gar nicht so schlecht«, bemerkte Tante Brini.
»Das wundert mich nicht«, brummte Karigans Vater. »Solange ich euch unterstütze, fehlt es euch an nichts.«
Seine Bemerkung wurde mit schwesterlichem Protest quittiert. Gretta schlug ihren Bruder mit ihrem Taschentuch.
»Siehst du, was ich ertragen muss?«, sagte er zu Karigan. »Immer verbünden sie sich gegen mich.« Damit erntete er noch mehr missbilligende Äußerungen. Er grinste und gab Karigan eine Börse.
»Was ist das?«, fragte sie, obwohl sie es aufgrund des Gewichts bereits wusste.
»Ein bisschen Geld, falls du es mal brauchst.«
»Aber …«
»Ja, ich weiß. Du stehst in Lohn und Brot und hast sogar freie Unterkunft, aber mit einem solchen Hungerlohn kannst du dir nie ab und zu mal was Nettes kaufen.«
»Aber …«
»Und man kann ja nie wissen, vielleicht finden deine Tanten irgendwann doch
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