Pfad der Schatten reiter4
Augenblick in der Luft, bevor sie zerbarst, aber für diesen kurzen Moment trug sie Karigan in diesen Wald hinein. Die verrotteten Äste beugten sich über sie und griffen nach ihr, der schlammige Waldboden saugte an ihren Füßen und das wilde Schrillen irgendeines blutdürstigen Wesens zerriss die schwere, feuchte Luft. Dann verschwand die Vision und die Scherben der Kugel fielen wie Eiskristalle in den Schnee.
Der Wind seufzte und trug Karigan aus weiter, weiter Ferne ein schmerzerfülltes Flüstern zu: Argenthyne.
Dann war alles still.
Karigan stand im tiefen Schnee der Lichtung, und der Muna’riel glühte auf ihrer Handfläche. Bevor sie die Erscheinung und ihre Worte über Schläfer, Schwellen, Schlüssel, den Schwarzschleierwald und sogar die Anspielung auf ihre Mutter festhalten konnte, wurde ihr der Faden der Erinnerung entrissen, und ihr war, als sei nichts von alledem geschehen.
»Wir sind gleich zu Hause.«
Karigan fuhr beim Klang der Stimme ihres Vaters zusammen. Der Schlitten glitt dahin, das Messing und Silber des
Pferdegeschirrs klimperte. Die Pferde trotteten zügig voran, weil sie wussten, dass sie sich ihrem Stall näherten.
»Was ist passiert?«, fragte Karigan und blickte sich um, konnte aber im Dunkeln nur wenig erkennen.
»Ich vermute, mein pausenloses Gerede hat dich eingeschläfert.«
Karigan versuchte, sich zu erinnern, aber es war alles verschwommen. Sie hatten auf einer Lichtung angehalten. »Wir haben über den Mondstein gesprochen.« Sie klopfte auf ihre Tasche und spürte die Rundung des Steins darin.
»Ja, und ich habe versucht, mich zu entschuldigen.«
Sie fuhren um eine Kurve, und vor ihnen schimmerten die Lichter des Herrenhauses der G’ladheons. Ihr Vater hielt die Pferde erneut an und wandte sich zu ihr.
»Ganz egal, was passiert«, sagte er, »du bist meine Tochter, und ich liebe dich. Ich versuche, meinen Frieden mit der Magie zu machen. Du sollst wissen, dass ich stolz auf dich bin, und auf die Auszeichnungen, die du bekommen hast. Ich freue mich, dass der König deinen Wert erkennt – er ist ein guter Mann, und wir haben Glück, jemanden wie ihn zum Herrscher zu haben.«
Er hielt inne, vielleicht um seine Gedanken zu sammeln, und rieb sich das Kinn. »Ich hoffe nur, du kannst mir eines Tages verzeihen, dass ich so viele Geheimnisse vor dir hatte, aber bitte versuch zu verstehen, dass ich mich nicht für die Entscheidungen entschuldigen kann, die ich in meinem Leben getroffen habe.«
Karigan spürte keinerlei Zorn mehr. Es war ja sonnenklar, dass er niemals aufgehört hatte, ihre Mutter zu lieben, und obwohl er Magier nicht besonders mochte, versuchte er nun zumindest zu akzeptieren, dass sie ein Teil ihres Lebens war. Die Geheimnisse gefielen ihr zwar immer noch nicht, aber ihr war nun bewusst, dass sie ebenfalls einige hegte.
Sie konnte sich nicht aussuchen, welche Teile ihres Vaters sie mochte und welche nicht. Seine Verbindung zu dem Bordell und die Piraterie gehörten genauso zu ihm wie sein Leben als erfolgreicher Händler, liebender Ehemann und Vater. Alle diese Eigenschaften machten ihn zu dem, der er war.
Darum ging es doch wohl in der Liebe, oder? Dass man lernte, ohne Vorbehalte das Schlechte zusammen mit dem Guten zu akzeptieren?
»Du und deine Mutter waren immer das Allerwichtigste in meinem Leben«, sagte er. »Sie habe ich verloren, aber dich will ich nicht verlieren.«
»Ich weiß«, sagte Karigan.
Sie umarmten einander, und als sie endlich wieder in den Armen ihres Vaters lag, erschienen ihr das Leben als Grüne Reiterin und all die Schlachten und Gefahren, die sie erlebt hatte, sehr weit entfernt. Wieder war sie eine Tochter, die Sicherheit und Trost in der Umarmung ihres Vaters fand.
Ein paar Tage später stand Karigan vor dem Steinhügel, der das Grab ihrer Mutter bedeckte. Ihr Vater hatte dafür gesorgt, dass Kariny im alten Stil begraben wurde, nach den Sitten der Inselbewohner, mit dem Kopf in Richtung der Morgendämmerung. Karigans Tanten hatten erzählt, dass er in seiner Trauer die Steinpyramide selbst errichtet hatte, dass er Tag für Tag Steine herangeschleppt und aufgetürmt hatte. Manche waren riesig und sie fragte sich, wie er das überhaupt geschafft hatte. Ihren Tanten zufolge hatte er keine Hilfe annehmen wollen, und als sie die Geschichte erzählten, hatte Karigan am Ausdruck ihrer Augen erkannt, wie schwer es für sie gewesen war, seinen Schmerz mit anzusehen.
Karigan erinnerte sich kaum noch daran. Sie
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