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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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und machte mich taub.
    Aber auch dieser Sturm schwoll wie jene auf der anderen Seite an und flaute wieder ab. Während einer Flaute, als der Wind und Regen ein wenig nachließen und die Blitze sich entfernten, konnte ich besser sehen. Die Toten waren noch da, saßen oder lagen auf dem bebenden Boden, ruhig inmitten des Aufruhrs. Ich stolperte über einen alten Mann, der wach genug wurde, dass er mich in einer unbekannten Sprache anfahren konnte, ehe er zu seiner unheimlichen Ruhe zurückfand. Dort, vor mir … Aber nein, es war nur ein anderes Mädchen in Grün, das neben einem kleinen Kind saß …
    Dann sah ich sie.
    Cecilia saß ruhig unmittelbar an der Kante der Klippe über dem Meer. Sie konnte sich nicht bewegt haben, also musste es die Klippe gewesen sein. Ihr grünes Kleid war so durchnässt wie einst das der Witwe Conyers, so nass, als wäre Cecilia selbst auf einem sinkenden Schiff gewesen. Ihr üppiges Haar peitschte im Wind, lange Locken wanden sich wie Schlangen. Ich schnellte vor und riss sie zurück von der Kante der Klippe.
    Das Meer unter uns brodelte. Die Felsen im Wasser waren von der Brandung, der Gischt und dem Regen verborgen. Falls sich auf dem Strand unten Gestalten aufhielten – Hartah, Kapitän James Conyers, meine Tante Jo –, konnte ich sie nicht sehen. Ich wollte sie auch nicht sehen. Ich presste meine Zähne so fest aufeinander, dass meine Zunge blutete, und mit Cecilia in den Armen kehrte ich vom Pfad der Seelen zurück.
    Eine weitere Wanderung, die immer länger zu dauern schien, mit Erde, die meinen Mund und meine Augenhöhlen füllte, sodass ich den weichen Körper nicht sehen konnte, an den ich mich wie wild klammerte. Aber er war gar nicht weich, er war wie der meine zu einem knochigen Skelett geworden, wir beide waren hier auf ewig im Grab gefangen …
    Dann war es vorüber, und sie war bei mir.
    Wir lagen oben auf der Klippe über dem Strand, in einem Knäuel aus Frühlingskräutern. Cecilia wurde ganz reglos in meinen Armen. Ihre grünen Augen blinzelten: einmal, zweimal. Ein verwirrter Ausdruck trat auf ihre Züge, wie ein Nebelhauch auf Glas. Dann sprang sie auf, blickte sich um und fing an zu schreien.
    » Cecilia, nein! Es ist alles gut, alles ist gut! Cecilia!«
    Sie hörte auf zu schreien, wich aber vor mir zurück, ihre nassen Röcke fest umklammert, die Augen aufgerissen und entsetzt. » Roger! Wo bin ich? Was hast du getan?«
    Und dann erkannte ich, dass ihre Erinnerung ganz zurückkehrte. Was sah sie dort? Das runde Steinhaus in Hyrgyll – oder war sie irgendwo anders ermordet worden? Wie hatten sie sie getötet? Hatte sie …
    In Cecilias Augen wurde das Weiße sichtbar, und sie brach auf dem Boden zusammen.
    Ich kam nicht rechtzeitig, um sie aufzufangen. Sie fiel mit dem Gesicht nach unten, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte ich, ich hätte sie wieder verloren. Aber sie atmete. Ich rollte sie herum, legte ihren Kopf auf meinen Schoß und rieb ihr über die Wangen. Sie öffnete die Augen.
    » Roger?«, sagte sie, so leise, dass ich sie kaum hörte. Und dann: » Ich bin gestorben.«
    Ich konnte den Ausdruck in ihren Augen nicht ertragen. Schmerz, Verwirrung – sie war wie ein kleines Tier, das grausame Jungen aus Spaß verletzt hatten, ein Kätzchen, das miaute und bettelte: Lass es zu Ende gehen, oh, bitte, lass es zu Ende gehen …
    Ich log sie an. » Es war ein Traum, meine Lady. Ihr hattet einen bösen Traum.«
    Nur einen Augenblick lang blitzte eine Härte in ihrem Gesicht auf, eine Spur der Cecilia, die ich nie gesehen hatte. Dann griff sie nach dem, was ich ihr angeboten hatte.
    » Ja, natürlich, ein Traum! Ein dummer, böser Traum – wie dumm ich nur bin! Und wir sind hier, weil wir … weil wir …« Verzweifelt blickte sie sich auf der Lichtung um. » Ein Picknick! Ja, natürlich, jetzt erinnere ich mich, ein Picknick … ein böser Traum … Also wirklich, Roger, was machst du denn da? Du darfst mich nicht auf diese Weise festhalten! Böser Roger!« Sie sprang auf und entfernte sich ein paar Schritte von mir, auf ihrem Gesicht eine schreckliche Mischung aus Hysterie und Tändelei.
    » Cecilia …«
    » Denk doch nur daran, wer du bist!« Sie drohte mir mit dem Finger und ließ die Geste auf halbem Wege sein. Abermals verzog sich ihr Gesicht vor Panik, und abermals drängte sie sie zurück. Mit ihre koketten, dümmlichen Art, mit schierem, granithartem Willen. » Denk doch nur daran, wer ich bin! Selbst auf einem Picknick ist es nicht

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