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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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die tödlich war. Ich hatte keine Finger. Keine Finger, keine Fingernägel, keinen Handteller, nichts, womit man nach einem Messer oder einem Becher oder der Brust einer Frau greifen konnte, nichts …
    Ich schrie, und ich schrie immer weiter, bis sich die Tür öffnete und eine Stimme ernst sagte: » Ruhig, Roger. Hör sofort damit auf.«
    Es war Mutter Chilton.
    Sie stand dort und füllte den Eingang aus, hielt das plötzlich vermehrt eindringende Licht ab, bis sie sich neben mir hinkniete. Die Tür blieb offen. Ihr altes, junges Gesicht beugte sich über mich, ihre farblosen Augen spiegelten alles Licht wieder. » Du musst ruhig bleiben.«
    » Meine Hand …«
    » Ich weiß. Es tut mir leid. Hätte ich sie nicht abgenommen, wärst du gestorben.«
    » Ihr habt sie abgenommen? Aber …«
    » Es war nötig. Die schwarze Fäule hatte sich dort eingenistet. Lord Soleks Messer ist in Gift getaucht worden.«
    » Aber – meine Hand!« Es klang wie ein Wimmern, wie bei einem Sechsjährigen, und sie runzelte die Stirn.
    » Es war nur eine Hand«, sagte sie ernst. » Du hast noch eine.«
    Ihre Herzlosigkeit und Gleichgültigkeit waren so entsetzlich, dass ich ruhig wurde. Nur eine Hand?
    » Denk daran, was du außerdem bist, Roger. Jetzt sei still. Ich muss gehen.« Sie erhob sich.
    » Nein, wartet! Wo bin ich? Was ist los? Maggie …«
    Ihr Gesicht wurde weicher. » Gut. Du hast Gedanken für jemand anderen übrig. Ich werde Maggie zu dir schicken. Aber bleib ruhig bis dahin.«
    » Wartet!«
    Aber sie wartete nicht. Stattdessen sagte sie etwas, das keinen Sinn ergab: » Du darfst niemals deine Mutter suchen.« Die Tür ging zu, und ich hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.
    Meine Mutter? Was wusste diese Hexe von meiner Mutter?
    Hexe. Das Wort kam mir ungebeten in den Sinn. Aber ja, natürlich, Mutter Chilton war etwas, an dessen Existenz ich nie geglaubt hatte: eine Hexe. Sie hätte keine Hexe sein müssen, um einen Jungferntrunk herzustellen, und vielleicht auch nicht, um mir die Hand abzunehmen und mich mit Drogen außer Gefecht zu setzen, damit ich keine Schmerzen spürte. Aber um von meiner Mutter zu wissen? Und die anderen Dinge, die sie zu mir gesagt hatte, halb vergessene Dinge? Sie verfügte eindeutig über mehr Wissen, als ein gewöhnlicher Mensch besitzen sollte.
    » Manchmal wissen wir alle nicht, wo wir stehen. Oder wer wir sind.«
    » Du hast schon genug Aufruhr im Land der Toten verursacht.«
    » Du weißt viel, sogar mehr als du glaubst, aber du weißt nicht, was Cecilia ist … eine hübsche, hohlköpfige Zunderbüchse, die alles in Flammen setzen wird.«
    Und das hatte Cecilia getan, und dann war sie dafür gestorben. Zweimal. Ich starrte den Stumpf meiner Hand an und wartete auf Maggie. Und als sie nicht kam, starrte ich meinen verletzten Arm an, und leise, so still, wie man es mir aufgetragen hatte, weinte ich.
    Als Maggie doch kam, Stunden später, war ich mit dem Weinen fertig. Mutter Chiltons Arzneien, woraus auch immer sie bestanden, hatten angefangen nachzulassen. Der Stumpf, zu dem mein Handgelenk geworden war, fing an zu pochen, noch nicht stark, aber mit dem Versprechen, dass bald echter Schmerz daraus werden würde. Ich hatte Hunger, und ich musste Wasser lassen. Vorsichtig stand ich auf und erleichterte mich in einer Ecke des Raumes, in der es beinahe finster war, dann bedeckte ich die Nässe mit etwas Stroh. Das letzte Licht war verblasst. Ich saß in gänzlicher Finsternis da, an die Steinmauer gelehnt, und hielt meinen verbundenen Stumpf mit der guten linken Hand fest. Schließlich, ein ganzes Leben später, klirrte es im Schloss. Die Tür öffnete sich.
    » Roger?«
    Maggie kam mit einer Laterne und einem kleinen Beutel herein. Die Laterne warf Schatten auf die Steinwände, auf die Holztür, auf sie. Sie trug ein sauberes Kleid aus grober, blauer Wolle. Blau. Ich hatte sie nie in etwas anderem als Grün gesehen. Ihr helles Haar, noch kurz, weil sie es sich abgeschnitten hatte, um als mein Bruder aufzutreten, lockte sich um ihr Gesicht. Ein großer blauer Fleck, der schon alle möglichen Farben von verdorbenem Gemüse annahm, prangte auf der linken Hälfte ihres Gesichts und verschloss ihr linkes Auge.
    » Du bist verletzt!«, rief ich – das Erste, was mir einfiel. » Haben sie dich …?«
    » Gefoltert? Nein. Das ist nichts.« Sie stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich zu mir aufs Stroh. Ihr eines graues Auge, das ich sehen konnte, musterte mich besorgt. » Tut

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