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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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Land mit Hartahs Marktstand. Mit dem Unterschied, dass dieses Städtchen mit einem Herrenhaus geschmückt gewesen und die Mutter des Lords vor Kurzem gestorben war. Eine harmlose, tratschende alte Dame, zu alt und zu tot, als dass sie noch die Klassenunterschiede beachtet hätte. Sie hatte mir freudig von den Leuten auf dem Land erzählt, und ich hatte es mir erspart, von Hartah verprügelt zu werden.
    »› Frahyll‹ ist kein weit verbreiteter Name«, sagte die Königin. » Er beinhaltet die gepeinigten Silben der Namen aus dem Süden, Namen aus den Unbeanspruchten Landen oder sogar aus dem Seelenrankenmoor. Namen wie › Hyrgyll‹. Wie › Hartah‹. Du schreist ziemlich oft nach › Hartah‹, Roger. Ist er auch tot?«
    Ich war stumm vor Entsetzen.
    » Roger, kannst du den Pfad der Seelen ins Land der Toten betreten?«
    Ungeduldig sagte Lord Robert: » Das ist unmöglich. Ich habe es dir immer wieder gesagt, Caro – der Pfad der Seelen ist ein Aberglaube. Eine Vorstellung der unwissenden Bauern, die immer noch glauben, dass man ein Gewitter auslöst, wenn man auf einen Frosch spuckt.«
    Die Königin schenkte ihm keine Beachtung. Ihr Blick, schwarz, mit Silber gesprenkelt, das unter der Oberfläche trieb, löste sich nie von meinem. Das Entsetzen ließ mich schweigen. Sie konnte mich foltern, mich als Hexe verbrennen lassen …
    » Denk gut nach, Roger, ehe du mir antwortest. Ich werde die Wahrheit herausfinden, und dazu gibt es verschiedene Wege. Das sind keine angenehmen Wege. Ich will dich ihnen nicht aussetzen, aber …«
    » Gute Güte, Caro, er ist nur ein Junge!«
    » … aber wenn es nötig ist, werde ich es tun. Ich bin keine grausame Frau, Roger. Ich bin eine Frau, die ihr Land gut regieren will. Die sich den Hindernissen auf dem Weg zu ihrer Herrschaft stellt – Hindernissen, die du dir nicht einmal annähernd vorstellen kannst. Die tun wird, was immer nötig ist, für das größere Gute und um meiner Tochter willen, die nach mir herrschen muss. Verstehst du mich?«
    » J…ja.«
    » Dann werde ich dich noch einmal fragen. Antworte ehrlich, und antworte unter vollem Bewusstsein der Folgen. Du bist nicht dumm. Ich kann erkennen, dass du nicht dumm bist. Roger, kannst du den Pfad der Seelen ins Land der Toten betreten?«
    » J…ja«, sagte ich.
    » Zeig es mir.«
    » Caro …«, begann Lord Robert.
    » Zeig es mir jetzt. Hier.«
    Ich sagte aufgewühlt: » Ich muss …« Ich brachte es nicht über die Lippen, aber ich musste es sagen. » Ich muss Schmerzen spüren. Ich kann es selbst herbeiführen.«
    » Dann mach es.«
    Ich legte mein kleines Bündel auf den polierten Tisch und knüpfte es auf. Lord Robert, der inzwischen betont gelangweilt wirkte, lächelte herablassend beim Anblick des einfachen Nachthemds, das aus einem Betttuch gemacht war. Ich nahm mein Rasiermesser und trieb es mir in den Oberschenkel. Schmerz raste brennend meine Nervenbahnen entlang. Noch während ich die nötige Willensanstrengung unternahm, hörte ich die Königin aufschreien, als mein Körper zusammenbrach, und spürte schwach, wie Lord Robert mich katzenschnell auffing, als ich fiel.
    Dunkelheit …
    Kälte …
    Dreck in meinem Mund …
    Würmer in meinen Augen …
    Erde umfing meine fleischlosen Arme und Beine …
    Zum ersten Mal seit einem halben Jahr betrat ich den Pfad der Seelen.
    Der Palast war fort. Nur der Fluss war geblieben, breit und ruhig wie im Land der Lebenden, aber der Ring aus zerklüfteten Bergen im Westen war verschwunden; sie mussten hier weiter entfernt sein. Alles hatte sich ausgedehnt. Die Insel war so groß, dass ich sie nicht ganz überblicken konnte, und Bäume sprenkelten die weite Ebene am gegenüberliegenden Ufer, wo es Bauernhöfe und Felder gegeben hatte. Bäume und Haine und Teiche und die Toten.
    Es gab viel mehr von ihnen als auf dem Land, aber die weite Ebene wirkte nicht überfüllt. Vielleicht – und das war das erste Mal, dass mir dieser Gedanke kam – dehnte sich die Erde selbst aus, um alle aufzunehmen, die gestorben waren. Ein deutlich größerer Teil der Toten als in den Dörfern, in denen Hartah seinen Stand aufgestellt hatte, war gut gekleidet. Seidenkleider, brünierte Rüstungen, altmodische Reifröcke, Brokatmäntel und Wämser, und all das neben seltsamen weißen Gewändern oder grob genähter Kleidung aus Leder und Fell. An diesem Fluss lebten seit sehr langer Zeit Menschen.
    Ganz gleich, was sie trugen, benahmen sich diese Toten wie alle anderen: Sie saßen in Kreisen,

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