Pfad der Seelen
hatte, sondern eine Frau, die weder jung noch alt war, weder dick noch dünn, weder hübsch noch hässlich. Sie trug ein graues Kleid und eine graue Haube. Niemand würde sich nach ihr umdrehen; eigentlich hatte ich das Gefühl, sie gar nicht richtig zu sehen.
» Was willst du?«, fragte sie nicht unfreundlich.
» Ich suche Mutter Chilton.«
» Ich bin Mutter Chilton.«
» Ihr?«
Sie lächelte schwach. » Ich. Was brauchst du? Nimm die Maske ab.«
» Ich kann nicht.« Und dann fügte ich sinnloserweise hinzu: » Es tut mir leid.«
Sie erhob sich und blieb dicht vor mir stehen. Nun war das Feuer hinter ihr, und ihr Gesicht lag im Schatten. Mit einer starken Hand hob sie mein Kinn zum Feuer und starrte durch die Löcher der Maske in meine Augen. Ihre eigenen Augen hatten keine Farbe, nur ein gleichmäßiges Glühen, das alles Licht widerzuspiegeln schien, aber nichts davon zurückbehielt. Sie keuchte scharf auf. » Wer bist du?«
» Ich habe Euch doch gesagt, dass ich das nicht …«
» Kommst du aus dem Seelenrankenmoor?«
Diese Frage überrumpelte mich völlig. Das Seelenrankenmoor, für dessen bloße Erwähnung Maggie mich gescholten hatte? Das Seelenrankenmoor, in dem meine Mutter gestorben war? Ich keuchte: » Was … was ist mit dem Seelenrankenmoor?«
» Also sind sie bereit?«
» Wofür bereit? Gute Frau, ich bin wegen … wegen eines Jungferntrunks gekommen!«
Ein langer Augenblick verging, dann lachte sie, gezwungen und verbittert. » Ich verstehe. Ein Jungferntrunk.« Ihre Hand ließ mein Kinn los, und sie drehte sich um. » Hinaus mit dir!«
» Ich kann zahlen!« Verzweifelt wühlte ich in meinen Taschen herum, bis ich das Goldstück fand. Ich hielt es ihr hin.
» Ein Jungferntrunk«, wiederholte sie. » Und ich habe dich gefragt … nun, weshalb nicht. Manchmal wissen wir alle nicht, wo wir stehen. Oder wer wir sind. Setz dich dort hin.«
Ich gehorchte, aus Angst, mich ihr zu widersetzen. Sie bewegte sich rege durch das Zelt, nahm Dinge aus ihren Säckchen, stellte Fläschchen und Schalen auf den Tisch. Ihr Körper schirmte ab, was immer sie tat. Bald drang ein herber Duft heran, nach Äpfeln und noch etwas anderem, und sie reichte mir eine Phiole, die mit Wachs verschlossen war.
» Sie soll es in einem Zug trinken und dann einen Tag lang nichts essen. Sie wird keine Übelkeit spüren. Und ich muss dir ja nicht sagen, dass sie eine Woche lang mit niemandem ins Bett gehen sollte, oder?«
Meine Ohren wurden heiß. Meine Lady Cecilia ging nicht mit Männern ins Bett; sie hatte sich stolz dem Wettspiel um einen Platz in ihrem Bett verweigert. Mutter Chilton warf mir einen amüsierten Blick zu und reichte mir die Phiole. Aber in ihrer Belustigung lag etwas Berechnendes, und ich machte mich davon, so schnell ich konnte.
Maggie ließ mich durch die Küchentür für die Lastkähne herein und verschloss sie hinter sich.
» Hast du bekommen, was du brauchst?«
» Ja.«
» Gut. Nehme ich zumindest an. Roger – sei vorsichtig. Es sind seltsame Zeiten.«
Sie schien weniger zornig auf mich zu sein als zuvor, weniger ungeduldig. Sie war froh, dass ich sicher zurück war, was in meinem Herzen ein kleines, warmes Feuer entstehen ließ. Ich riskierte ein paar Fragen. » Was meinst du mit › seltsame Zeiten‹, Maggie?«
» Weißt du das nicht besser als ich? Ich weiß nur, was ich an Geschwätz höre, oder was mir mein Bruder erzählt, der ein Soldat bei den Blauen ist. Du bist doch derjenige, der neben der Königin sitzt.«
Ich sagte langsam: » Ich sitze ihr zu Füßen. Ich reiße Witze über Dinge, die ich nicht verstehe. Ich hoffe verzweifelt, dass meine Scherze zur Situation passen, zumindest ein wenig. Und dass sie lustig sind, zumindest ein bisschen. Ich färbe mir das Gesicht gelb. Ich mache alberne Bewegungen, ich tanze rückwärts oder gebe vor umzufallen. Und die ganze Zeit über habe ich Angst, dass ich einen Fehler mache, etwas, das der Königin missfällt. Ich habe immer Angst, Maggie. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre wieder hier, würde Wasser für die Wäscherei schleppen und unter dem Tisch schlafen.«
Sie nahm meine Hand. Die ihre war warm, rau von der Arbeit. » Wir sind gleich alt, und dennoch glaube ich manchmal, ich wäre viel älter als du.«
Sie würde nicht so denken, wenn sie wüsste, was ich gesehen und getan hatte. Das Wrack der Frances Ormund, das Messer, das in Hartahs Fleisch drang … So sehr ich Maggie auch in der Gegenwart vertraut hatte, meine Vergangenheit
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