Pfad der Seelen
ist kein großes Geheimnis. Ich bin sicher, es gehen schon Spekulationen am Hof um. Die Braut meines Bruders, Königin Isabelle, schickt Truppen, um Lord Soleks Armee zu verstärken. Sie sind bereits unterwegs.«
Königin Isabelle. Ich hatte also doch recht gehabt, zumindest zum Teil. Königin Caroline war während der Belagerung so ruhig geblieben, weil sie nicht nur eine, sondern zwei Armeen an der Hand hatte, um die Blauen zurückzudrängen, die gegen sie aufbegehrten. Und dann erkannte ich noch etwas. Die Armee von Königin Isabelle, die durch den Heiratsbund Königin Caroline die Treue halten musste, würde auch sicherstellen, dass Lord Solek den Thron nicht selbst übernehmen konnte. Sie vertraute Lord Solek nicht vollständig; sie hatte eine weitere Absicherung. Das Königinnenreich hing nicht wirklich von meinem Bericht aus dem Reich der Toten ab. Jedoch glaubte Königin Caroline nicht, dass der wilde Häuptling – der immerhin nicht einmal unsere Sprache kannte – oder ich dies erkennen würden.
Es war das erste Mal, dass ich eine Sekunde lang der Ansicht war, ich sei ihr überlegen.
» Bist du bereit, Roger? Dann geh jetzt.«
Sie reichte mir die juwelenbesetzte Schere. Ich stieß sie mir in den weichen Unterarm, gleich oberhalb des gelben Samtaufschlags meines zweifarbigen Gewandes, und betrat den Pfad der Seelen.
Erde in meinen Mund …
Würmer in meinen Augen …
Dann war ich drüben, und etwas war vollkommen falsch.
19
Wie eh und je saßen die Toten immer noch da, oder lagen herum und starrten ins Nichts. Aber der Boden war falsch. Ich war daran gewöhnt, wie das Land der Toten sich ausdehnte oder zusammenzog, sodass etwas, das sich im Land der Lebenden in der Nähe befand, Meilen entfernt sein konnte. Aber der Boden war immer gleich, mit niedrigem, dichtem Gras bedeckt. Der Himmel war stets von einem gleichmäßigen, nichtssagenden Grau. Der Fluss schlängelte sich immer ruhig, flach und träge dahin.
Jetzt nicht mehr. Das Gras wuchs in uneinheitlichen Büscheln: An manchen Stellen hohes Unkraut, an einigen niedriger Rasen, manchmal nackter Boden. Im Fluss waren Steine, und das Wasser floss schneller; kleine, weiße Schaumkronen wirbelten um die Felsen. Der Himmel schien dunkler zu sein. Und unter meinen Füßen bebte der Boden leicht. Was geschah an diesem Ort, an dem niemals etwas geschah?
Benommen fing ich an, am Fluss entlangzugehen. Ich entdeckte niemanden, der mir bekannt vorkam. Nach einer Weile wuchsen die Bäume dichter, bildeten kleine Haine und dann richtige Waldstücke. Das Land wurde wilder, und ich musste mich vom Wasser abwenden.
Ich konnte die beiden toten wilden Krieger nicht finden, und selbst, wenn ich sie gefunden hätte, wären sie ruhig da gesessen, genauso unerreichbar wie die übrigen Toten. Im Land der Lebenden wartete die Königin auf eine Antwort. Was sollte ich tun?
Auf einmal sprang mich ein Mann von hinten aus einem Dickicht an. Ich schlug nach ihm, und er nach mir, und sein Schlag traf mich am Kinn, nicht fest genug, um mir etwas zu brechen, aber fest genug, um mich umzuwerfen. Es war ein Soldat der Blauen. Als ich japsend dalag, packte er mich am Arm und zerrte mich zu einem weiteren Soldaten, der mich wiedererkannte.
» Junge! Hat dich die Hexenkönigin, diese Hure, schon wieder hierhergeschickt?«
Es war der gleiche Soldat, mit dem ich mich bei meinem letzten Mal auf dem Pfad der Seelen unterhalten hatte. Ich stammelte: » J…ja. Sie hat mir gesagt … sie hat mir gesagt, ich solle nachsehen, wie es im Hexenland vorangeht, bis sie selbst wieder zurückkehren kann.«
Er spuckte aus, und sein Speichel hinterließ einen kleinen, feuchten Fleck auf der Erde. Hatten die Toten so etwas jemals zuvor gekonnt? Aber offenbar glaubte dieser Mann noch immer nicht, dass er tot war. Das Land der Toten füllte sich mit Leuten, die genauso wie Kauz nicht glauben konnten, wo sie waren. Und ihre Umgebung veränderte sich zunehmend. Das Beben im Boden, der Wind und die Blitze und die Verdunkelung des Himmels – alles wurde stärker, während die Anzahl der blauen Soldaten hier durch die Schlacht auf der anderen Seite anstieg. Ich war dafür verantwortlich. Ich, Roger Kilbourne, durch die Lügen, die ich über das » Hexenland« erzählt hatte.
» Hier geht alles langsam voran«, erklärte mir der blaue Hauptmann. » Wir haben keinen Weg gefunden, wieder ins Königinnenreich zurückzukehren. Auf Königin Eleanor liegt nach wie vor ein Bann, sie isst nicht, schläft
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