Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Fieber. Das unpersönliche Schreiben eines niedrig gestellten britischen Konsulatsmitarbeiters war zusammen mit einer Kiste gekommen, in der sich die persönliche Habe ihres Bruders befand. Gabriella war am Boden zerstört gewesen. Enrico war zwanzig Jahre älter als sie und ebenso sehr ein Vater wie ein Bruder für sie gewesen. Abgesehen von den Verwandten ihrer englischen Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, war er die einzige Familie, die sie besaß. Damals hatte sie sich geschworen, die zu finden, die verantwortlich waren, und den Ruf ihres Bruders wiederherzustellen.
Nun könnten Antworten auf ihre Fragen greifbar sein. Geistesabwesend nagte sie an ihrer Unterlippe und betrachtete den Schreibtisch. Wahrscheinlich war er abgeschlossen. Teufel noch eins, daran hätte sie denken müssen und vorbereitet sein sollen! Dieser Plan schien doch nicht wesentlich besser als der vorherige und wohl auch nicht viel klüger.
Erst nach Enricos Tod entdeckte Gabriella, dass sie finanziell erheblich unabhängiger war, als sie vermutet hätte. Es hatte sie regelrecht schockiert zu erfahren, dass ihr Vater den Großteil seines beträchtlichen Vermögens ihr vererbt hatte. Aus den Dokumenten, die sie nun erstmals in Händen hielt, war hervorgegangen, dass ihre Mittel nicht nur ihren Unterhalt finanziert hatten, sondern auch Enricos Arbeit. Das hatte ihr Bruder ihr gegenüber nie erwähnt, was er ja auch nicht musste. Da er die meiste Zeit gar nicht in London weilte, hatte sein Anwalt ihre Finanzen verwaltet. Der Anwalt arrangierte, dass alle Ausgaben gedeckt wurden, einschließlich der für Gabriellas Schule, ihr Studium am Queen’s College, für das bescheidene Haus in London, in dem sie wohnte, und für Miss Henry. Florence Henry diente Gabriella als Gesellschafterin, Anstandsdame und Freundin. Sie stand ihr zur Seite, seit Gabriella nach London zog.
Die erstaunlichen Entdeckungen nach Enricos Tod beschränkten sich indes nicht auf die Finanzen. Sie hatte außerdem ein Bündel Briefe gefunden, die an ihre Mutter gerichtet waren – die Mutter, die im Kindbett nach Gabriellas Geburt verstarb. Diese Briefe könnten sich eines Tages als nützlich erweisen, sollte Gabriella den Wunsch verspüren, ihre englische Verwandtschaft kennenzulernen. Was gegenwärtig nicht der Fall war. Jene Verwandten hatten bislang nicht nach ihr gesucht, also warum sollte Gabriella nach ihnen suchen? Trotzdem könnte besonders einer der Briefe dienlich sein. Und ihr neu entdeckter Reichtum war es jetzt schon.
Nicht dass sie exorbitant reich wäre; doch sie verfügte über ein recht ansehnliches Vermögen. Und sie war es nicht gewöhnt, Geld zu besitzen. Zwar war es angenehm zu wissen, dass sie sich alles leisten könnte, was sie wollte, aber der Gedanke an frivole Extravaganzen bereitete ihr Unbehagen. Dennoch machte es ihr die neue Situation sehr viel leichter, als ihr Kummer und ihre Wut sie zu der impulsiven Entscheidung verleiteten, nach Ägypten zu reisen und die Harringtons zur Rede zu stellen. Diesbezüglich plagten sie einige Schuldgefühle, denn sie hatte die gute Florence getäuscht. Was im Grunde zu Florences Wohl geschah, denn die Gute sollte sich nicht aufregen. Florence glaubte, dass Gabriella über Monate in einem friedlichen französischen Kloster saß, wo sie ihrer Trauer nachhing. Und sie glaubte außerdem, dass Xerxes und dessen Frau Miriam einen wohlverdienten Urlaub in einem Dorf unweit des Klosters machten, statt vergeblich in Ägypten nach dem Siegel zu suchen.
Gabriella wünschte, Xerxes wäre jetzt bei ihr. Zu den zahlreichen einzigartigen Talente von Xerxes Muldoon zählte auch, dass er jedes Schloss öffnen konnte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich derlei Fertigkeiten angeeignet hatte, aber sie waren überaus praktisch. Nur leider war es eine Sache, sich allein auf diesen Ball zu schleichen, eine ganz andere jedoch, unbemerkt in Begleitung Xerxes’ zu erscheinen. Der Sohn einer ägyptischen Mutter und eines irischen Vaters war groß, kräftig und eine äußerst exotische Erscheinung, die gewiss nicht unbemerkt geblieben wäre. Deshalb wartete Xerxes in diesem Moment in Gabriellas Kutsche nahe der hinteren Gartenpforte.
Nein, sie musste allein nachforschen. Vorsichtig zog sie an den Schreibtischschubladen, die tatsächlich abgeschlossen waren. Nach einem Schlüssel zu suchen, war gewiss zwecklos. Wer Schubladen verriegelte, ließ den Schlüssel nicht offen herumliegen. Auf dem Schreibtisch befanden sich
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