Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Galerie hatte sie das Gefühl gehabt, sie wäre Teil von allem, gehörte wirklich dazu.
Nun versuchte sie, sich auf seine Worte zu konzentrieren, so monoton sie auch anmuteten. Alles war gut, was sie von ihren Gedanken ablenkte.
Beckworth machte eine Pause. »Dieses Jahr hatten wir eine höchst ungewöhnliche Anfrage, aber da sie vom Earl of Wyldewood kommt …«
Sofort merkte Gabriella auf. Florence stupste sie an. »Hörst du zu?«
»Ja«, hauchte sie und blickte zum Podium. Was ging dort vor?
»Der Vorstand gestattet Mr Nathanial Harrington, zur Versammlung zu sprechen. Mr Harrington.«
Der Direktor trat beiseite, und Nathanial schritt mit einem Stapel Papieren und einem kleinen Buch an seine Stelle.
Nathanial?
»Guten Tag, Gentlemen. Ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen«, begann er.
Gabriella war starr vor Schreck. Was tat er? Sie beugte sich weiter vor.
»Gemäß den Regeln des Gutachterkomitees kann ein Artefakt nur vor dem Ende der Jahresversammlung zur Verifizierung vorgelegt werden. Ausnahmen bedürfen außergewöhnlicher Umstände.« Nathanials Stimme klang stark und fest. »Ich denke, die besonderen Umstände, die ich im Folgenden kurz schildern möchte, erfüllen dieses Kriterium.
Im letzten Jahr hatte Enrico Montini ein akkadisches Zylindersiegel in seinem Besitz. Die Gravuren auf dem Siegel enthielten Symbole der versunkenen Stadt Ambropia und des Jungferngeheimnisses.«
Interessiertes Gemurmel ging durch die Menge. Gabriellas Herz schlug, und sie fühlte einen Kloß in ihrem Hals.
»Leider wurde ihm das Siegel gestohlen, und bei dem Versuch, es wiederzubeschaffen, starb er.« Nathanial blickte hinauf zur Galerie, zu Gabriella. »Es wurde nun dank der couragierten Bemühungen von Miss Gabriella Montini wiederentdeckt, wenn auch leider zu spät für das diesjährige Gutachterkomitee. Den Regeln dieser angesehenen Institution zufolge …« Er sah hinunter zu dem Buch. »… darf die Mitgliederversammlung durch einfaches Mehrheitswahlrecht eine erneute Zusammenkunft des Komitees bestimmen. Ich möchte Sie bitten, das nun zu tun.
Abgesehen von der unvergleichlichen historischen Bedeutung des Fundes soll es der Gesellschaft gestiftet werden, weshalb die Verifizierung von äußerster Wichtigkeit ist. Zudem schlage ich vor«, er sah wieder zu Gabriella, »dass es fortan unter der Bezeichnung ›Montini-Siegel‹ geführt wird, um den Mann zu würdigen, der es bekannt gemacht hat, und die Frau, die alles riskierte, es uns zurückzubringen. Ich danke Ihnen.« Nathanial nickte und trat vom Podest.
»Höchst ungewöhnlich«, wiederholte Mr Beckworth, der wieder an seinen Platz trat. »Wir werden am Ende der Versammlung, im Rahmen der allgemeinen Abstimmungen, auch über diesen Vorschlag abstimmen. Und nun wenden wir uns …«
Gabriella starrte ungläubig auf die Bühne. Ihr Herz pochte wie verrückt. Nathanial hatte sie nicht betrogen! Er hatte sie nicht im Stich gelassen. Wie konnte sie auch nur eine Minute lang an ihm zweifeln?
»Komm.« Florence stand auf. »Wir müssen gehen.«
»Wie bitte?«
»Komm«, sagte Florence streng, nahm Gabriellas Arm und zerrte sie fast von ihrem Stuhl. »Jetzt.«
Gabriella war ziemlich sicher, dass sie einen Fuß vor den anderen setzte, auch wenn sie nichts davon wahrnahm. Eben waren sie noch auf der Galerie gewesen, und auf einmal waren sie unten auf dem Korridor.
»Miss Montini? Gabriella?«
Gabriella drehte sich um und sah den Earl of Wyldewood, der mit einem auffällig freundlichen Lächeln hinter ihr stand. Sie war nicht sicher, dass sie ihn überhaupt schon einmal lächeln gesehen hat. »Ja?«
»Falls alles verläuft, wie Nathanial geplant hat, soll ich Ihnen dies hier geben.« Er reichte ihr ein gefaltetes Blatt. »Und sie dann zum Büro des Direktors begleiten.«
Sie blickte auf die Nachricht in ihrer Hand.
Der Earl neigte den Kopf und sagte leiser: »Sie sollten es jetzt lesen, Gabriella.«
Sie nickte und faltete das Blatt auseinander. Warum zitterten ihre Hände neuerdings immerzu?
Die Nachricht lautete:
Meine liebste Gabriella,
so schön manche Überraschungen auch sein mögen, scheint es mir klug, Dir diese Neuigkeiten im Vorwege schriftlich mitzuteilen. Du sollst wissen, dass die Familie Deiner Mutter nach dem Tod Deines Vaters versuchte, Dich zu finden. Sie stellten ihre Bemühungen erst ein, als man ihnen mitteilte, Du wärst verstorben. Sie haben sich stets gewünscht, Dich bei sich zu haben und
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