Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Bruder, hättest du es besser gewusst.«
»Heute weiß ich es.«
Sie war schockiert gewesen, als sie an eine englische Schule kam und erfuhr, dass ein einziger Zwischenfall mit einem Jungen, der kaum älter war als sie, sich auf den Rest ihres Lebens auswirken sollte. Weil sie ihre Verführung zuließ – ohne zu begreifen, welche Bedeutung dieser Akt haben würde – hatte sie sich jede Chance auf eine gute Heirat verdorben. Was sie mit dem Sohn eines deutschen Archäologen tat, war, wie sie nun erkennen musste, dasselbe wie die vulgären Anspielungen, die Männer wie ihr Bruder über Freudenmädchen äußerten. Nicht nur schämte sie sich entsetzlich, nein, sie verabschiedete sich auch von jedweder Hoffnung auf Liebe, Heirat und jemanden, dem sie ihr Herz anvertrauen könnte.
»Aber genug von mir«, sagte sie. »Wie beträgt sich dein Mr Dennison heute Abend?«
»Er ist nicht mein Mr Dennison«, erwiderte Florence. »Noch nicht.«
Gabriella staunte. »Aha?«
»Ich hätte gedacht, meine ohnedies geringen Aussichten auf eine Ehe wären seit Langem null und nichtig, und nie hätte ich erwartet, einem Mann wie Mr Dennison zu begegnen. Er ist freundlich, gutherzig und klug. Und er gibt mir das Gefühl … etwas Besonderes zu sein.« Florence seufzte. »Als wäre ich die schönste, die klügste, die außergewöhnlichste Frau auf der Welt. Und ich muss gestehen, als er mich küsste …«
»Du hast ihm erlaubt, dich zu küssen?«
»Ihm erlaubt? Mein gutes Kind, ich ermunterte ihn.« Florence beugte sich vertraulich zu ihr und lächelte selbstzufrieden. »Und er versteht sich außerordentlich gut darauf.«
Gabriella lachte.
»Ich bat ihn, uns eine Erfrischung zu holen«, sagte Florence, die aufgeschaut hatte, »und wie ich sehe, ist er zurück. Also sollte ich wieder zu ihm gehen. Kann ich dich allein lassen, meine Liebe?«
»Selbstverständlich«, antwortete Gabriella mit einem strahlenden Lächeln. »Mein Abend verläuft beinahe so angenehm wie deiner, du brauchst dich folglich nicht um mich zu sorgen. Geh zu deinem Mr Dennison und amüsiere dich. Ich schreibe dir morgen und berichte alles über meinen Abend.«
»Hat die Suche nach dem Siegel schon etwas ergeben?«
»Nein, leider nicht.«
»Das Gutachterkomitee kommt morgen zusammen«, erinnerte Florence besorgt.
»Und zehn Tage später ist alles vorbei. Dessen bin ich mir wohl gewahr.«
»Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Ich weiß.«
»Dürfte ich dir einen Vorschlag machen?«, fragte Florence zögernd.
Gabriella schmunzelte. »Könnte ich dich davon abhalten?«
»Falls du das Siegel nicht findest, dem Komitee nichts vorlegen kannst, dann gib es auf. Du darfst diese Jagd nach dem Schatz nicht den Rest deines Lebens bestimmen lassen.«
»Florence, ich …«
»Enrico ist tot. Er ist fort, und du solltest deinen Frieden damit machen. Seine Reputation wiederherzustellen, wird nichts an seinen Gefühlen für dich ändern.« Florence legte eine Hand auf Gabriellas Arm. »Es wird nicht im Nachhinein bewirken, dass er dich geliebt hätte.«
Gabriella sah sie mit großen Augen an. »Was für eine groteske Bemerkung! Ich hatte nie Grund, an den Gefühlen meines Bruders für mich zu zweifeln. Mir käme nicht in den Sinn, seine Zuneigung zu mir infrage zu stellen. Schließlich hat er mich gerettet, mir ein Zuhause gegeben, eine Schulbildung, alles.«
Was er von meinem Geld bezahlte.
Der unausgesprochene Vorwurf hing in der Luft, doch Gabriella schob ihn sogleich weit von sich. Es war unfair.
»Verzeih mir«, murmelte Florence. »Ich weiß nicht, was ich mir dachte, so etwas zu sagen. Natürlich hat er dich geliebt.« Sie strich Gabriella über die Wange. »Und nun genieße deinen Abend, meine Liebe. Wir sehen uns bald wieder.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging.
Gabriella blickte ihr nach, bis Florence bei Mr Dennison war. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass Florence in Gegenwart des Sekretärs buchstäblich leuchtete. Und er in ihrer.
Gabriella lächelte. Offenbar hatte Florence ihre Liebe gefunden. Liebe . Gabriellas Lächeln erstarb. Wie konnte Florence etwas Derartiges über Enrico sagen? Er hatte sie geliebt, keine Frage. Er war ein guter Bruder gewesen.
Und was das Geld betraf, so war sie noch ein Kind gewesen, als er sie ausfindig machte. Unmöglich hätte sie ihr Vermögen allein verwalten können. Und dass er es nie erwähnte, als sie größer wurde, lag einzig daran, dass es ihm nicht wichtig erschien. Er
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