Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
das Herz. »Alles«, antwortete er und hielt sie fester. »Ich will alles.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte sie ungerührt. Sie betrat ein heikles Terrain. »Außer, dass es absurd ist.«
»Wie kann es absurd sein, wenn Sie gar nicht wissen, was ich meine?«
»Ich meine …« Sie seufzte gereizt. »Ich weiß nicht, was ich meine. Aber ich weiß, was ich will und was ich nicht will.«
»Ach ja? Und was wollen Sie.«
»Ich will das Siegel finden.«
»Das versteht sich von selbst. Was wollen Sie sonst noch?«
Ich will …
»Ich will, dass Sie mir zuhören.«
»Sie verletzen mich zutiefst, Gabriella.« Er schüttelte den Kopf. »Ich lausche immer jedem Ihrer Worte.«
»Und anschließend tun Sie, was Ihnen beliebt?«
Er grinste gänzlich unbekümmert. »Aber ich höre zu.«
»Sie sind ein starrköpfiger Mensch, Mr Harrington.«
»Nicht starrköpfiger als Sie. Was übrigens einer der Züge ist, die ich an Ihnen liebe.«
»Jetzt reden Sie Unsinn. Wir kennen uns kaum. Wie können Sie irgendetwas an mir lieben?«
»Oh, das kann ich sehr wohl. Einiges sogar. Ich liebe es, wie leidenschaftlich Sie sich für die Rechte Ihres Bruders einsetzen. Und die Art, wie die geringste Kleinigkeit Sie ganz reizend zum Erröten bringt. Ich liebe Ihr unabhängiges Wesen und wie Sie versuchen, schrecklich anständig zu sein, während sie darüber nachdenken, Dinge zu tun, die weniger legal sind.«
Gabriella kämpfte mit dem Wunsch, sich dichter an ihn zu schmiegen. »Dennoch sollten Sie Ausdrücke wie Liebe nicht benutzen, sofern Sie nicht …«
»Gemeint sind?« Er nickte versonnen. »Sie haben vollkommen Recht.« Die Musik endete, und er führte sie von der Tanzfläche. »Punsch?«
Das war es also? Er wollte ihr Punsch holen, als hätte er nie das Wort Liebe erwähnt? Als hätte er nicht angedeutet, nun ja, Gefühle für sie zu haben? Nicht dass sie es wollte. Oder dass es einen Unterschied machte. Damit würde lediglich alles sehr viel schwieriger.
Sie lächelte höflich. »Ja, Punsch wäre mir überaus willkommen.«
Er lachte, als hätte er soeben einen Sieg errungen, und Gabriella blickte ihm nach. Er war wirklich schön anzusehen, groß, gut aussehend und schneidig. Ein Mann, der in Frauen den Wunsch weckte … Sie seufzte. Ein Mann, der in Frauen Sehnsucht nach etwas weckte, das sie nicht genau benennen konnten. Und der Gabriella nach Dingen verlangen ließ, die sie niemals haben könnte. Von denen sie nie geglaubt hatte, sie sich zu wünschen. Vor allem … ihn.
Sie blickte sich im Ballsaal um und bemerkte, dass die Magie, die sie zuvor empfunden hatte, nicht mehr da war. Die Lichter waren zu grell, die Kleider lediglich hübsch, die Musik gerade einmal passabel. Heute war nichts anders, nichts besonderer als früher.
Trotzdem hatte sie diesen Ball immer gemocht. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie so selten Bälle besuchte. Letztes Jahr war sie voller Hoffnung hergekommen. Enrico war in bester Stimmung gewesen, was Gabriellas Zuversicht mehrte, er könnte sich doch bewegen lassen, sie auf seinen nächsten Reisen mitzunehmen und ihm bei der Arbeit helfen zu lassen. Und obgleich sie nur eine Handvoll Menschen kannte, hatte sie beinahe keinen Tanz ausgelassen.
Vielleicht zum ersten Mal fiel ihr auf, wie außerordentlich klein ihre Welt war. Sie beschränkte sich auf die wenigen Bekanntschaften aus dem College, die älteren Herren, die ihre Tage am liebsten im Club der Antikengesellschaft verbrachten, wo sie ihnen auf ihrem Weg zur Bibliothek begegnete, den Direktor und dessen Gemahlin. Außer Florence, Xerxes und Miriam hatte sie keine Freunde. Sie hatte nie zuvor darüber nachgedacht, aber ihr Bruder hatte ebenfalls keine Freunde gehabt, zumindest keine, von denen sie wusste. Nach seinem Tod hatte es weder Kondolenzschreiben noch tief empfundene Mitleidsbekundungen gegeben. Was natürlich zu erwarten gewesen war. Enrico hatte ausschließlich seine Arbeit gekannt.
Das bedeutete nicht, er wäre kein guter Bruder gewesen. Gabriella biss sich gedankenverloren auf die Unterlippe. Es käme einem schändlichen Treuebruch gleich, sollte sie etwas anderes denken. Wie oft hatte sie sich dieselben Worte schon gesagt? Nicht erst nach seinem Tod, sondern schon Jahre davor? Selbst wenn er nie da war, wenn er sie nicht ganz so beschützt hatte, wie er sollte, wenn er ihr nicht all die Dinge beibrachte, die sie über anständiges Verhalten, Versuchungen und die Konsequenzen, die eine einzige unbedachte Tat für
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