Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
ihr Leben haben könnte, lernen musste, war es nicht mehr von Belang.
Sie reckte das Kinn. Enrico war tot, und sie war eigentlich nicht einsamer als zu seinen Lebzeiten. Hatte sie das Siegel gefunden, würde sie das Leben fortsetzen, das sich ihr bot. Wenigstens war sie nicht arm, dachte sie verbittert.
»Du bist viel zu grüblerisch für einen solch herrlichen Abend«, erklang Florences Stimme neben ihr.
»Bin ich?« Gabriella rang sich einen unbeschwerten Ton ab und wandte sich lächelnd zu ihrer bezahlten Gesellschafterin und Freundin um. »Ich wüsste nicht, warum. Es ist fürwahr ein herrlicher Abend.«
»Ich vermute, du hast über den Ball im letzten Jahr nachgedacht.«
»Ja, das ließ sich wohl nicht vermeiden.« Gabriellas Blick wanderte ziellos durch den Saal. Wie immer setzte sich die Gästeschar aus denjenigen zusammen, die nach den Schätzen der Antike suchten, und jenen, die ihre Arbeit finanziell unterstützten. Förderer der Gesellschaft mischten sich unter Professoren, Archäologen plauderten mit Vorstandsmitgliedern, ältere Gelehrte tanzten mit geneigten Matronen. »Letztes Jahr machten wir uns solch große Hoffnungen, glaubten, noch so vieles vor uns zu haben. Enrico wollte den Gutachtern sein Siegel vorlegen, das seine Reputation endgültig etabliert hätte. Und, wer weiß, vielleicht wäre er auch ohne das Siegel imstande gewesen, das Jungferngeheimnis zu lüften, die verlorene Stadt zu finden und …«
»Und er hätte dir niemals erlaubt, ihn zu begleiten«, sagte Florence streng.
»Ich habe alles gelesen, was es zu Ambropia gibt, obgleich es nicht viel war. Ich habe Sprachen studiert, Karten, Geschichte und …« Sie sah Florence an. »Ich wäre unentbehrlich für ihn gewesen.«
Florence sah sie eine Weile schweigend an. »Du wärst nicht mehr für ihn gewesen, als du immer schon warst.«
Eine Schuld gegenüber einem verstorbenen Vater. Eine Verpflichtung, der mit wenig Aufwand nachgekommen wurde. Ein Mittel, um ein Vermögen zu kontrollieren.
Gedanken, die sie über Jahre lieber gemieden hatte und seit Enricos Tod erst recht mied, hämmerten in ihrem Kopf.
Florences Züge wurden merklich milder. »Du musst dich einigen Fakten stellen, meine liebe Gabriella, nur ist dies nicht der geeignete Zeitpunkt. Heute Abend solltest du alle Gedanken an anderes als den Ball beiseite lassen. Ich hoffe, Mr Harrington ist ein angenehmer Gesellschafter heute Abend. Er wich dir bisher kaum von der Seite.«
»Nein, er fürchtet, ich könnte sonst verschwinden.«
»Würdest du denn?«
»Nein.« Obwohl … wäre es nicht der einfachste Weg, das zu beenden, was zwischen ihnen geschah? Hatten sie erst die Frage nach dem Siegel gelöst, könnte sie schlicht aus seinem Leben verschwinden. Die nötigen Mittel dazu besaß sie.
»Ich würde meinen, dass er es nicht gut aufnähme. Bedenkt man, wie er dich ansieht.«
»Unsinn!«
Florence schaute sie verwundert an.
»Ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll«, gestand Gabriella kopfschüttelnd.
»Wie möchtest du dich ihm gegenüber verhalten?« Ich möchte …
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie schnippisch. »Ach, entschuldige. Ich wollte nicht …«
»Nein, schon gut.« Florence kicherte. »Ich verstehe durchaus, dass du verwirrt bist. Mr Harrington ist zweifellos ein recht ansehnlicher Mann. Und wie Mr Dennison erzählt, scheint er überdies ein sehr angenehmer Mensch, ehrlich, ehrenwert …«
Gabriella schnaubte. »Dann dürften wir ja bestens harmonieren!«
»Dass du in jüngster Zeit nicht in allen Belangen vollkommen ehrlich bist, ist als Ausnahme zu betrachten. Es liegt nicht in deiner Natur«, tat Florence ihre Worte achselzuckend ab. »Ich würde meinen, dass ein Mann wie Mr Harrington derlei vorübergehende Charakterschwächen versteht und übersieht.«
»Ja, er könnte sie wohl übersehen, doch, wie du sagtest, ist er ein ehrenhafter Mann. Und ich würde behaupten, ein ehrenhafter Mann kann unmöglich darüber hinwegsehen …«
»Sofern du ihm die Gelegenheit gibst, kann er es.«
»Ich bin …« Nicht einmal die Worte wollten ihr über die Lippen. Ruiniert. Gefallen. Verdorben.
»Gabriella, du warst fast noch ein Kind, erst fünfzehn Jahre alt!«
»Und ich hätte es besser wissen müssen.«
»Ja, und wärst du richtig erzogen worden, statt von einem unzivilisierten Ort zum nächsten gezerrt zu werden, vortäuschend, ein Junge zu sein, und umgeben von Männern, die moralisch nicht gefestigter waren als dein
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