Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
eines Earls ziemte. Die übrigen Wände füllten große Bücherregale, die hier und da von Portraits längst verblichener Vorfahren unterbrochen wurden. Gabriella schnaubte verächtlich. Kein Zweifel, sie allesamt waren Piraten und Diebe. Ein kleinerer Schreibtisch, der gewiss vom Sekretär des Earls benutzt wurde, stand seitlich von dem seiner Lordschaft.
Gabriella schritt auf den kleineren Tisch zu und überlegte, wo sie ihre Suche beginnen sollte. Es war verblüffend einfach gewesen herauszufinden, dass der Sekretär des Earls nebenher die Korrespondenz seiner jüngeren Brüder erledigte. Ein paar beiläufige Unterhaltungen mit einigen älteren Mitgliedern der Antikengesellschaft, in denen sie sich beklagten, wie schwierig es war, Funde begutachten und Expeditionen finanzieren zu lassen, hatten ausgereicht. Und war es in früheren Tagen nicht sehr viel unkomplizierter gewesen, als sie noch diejenigen waren, die Kunstgegenstände und Schätze untergegangener Kulturen entdeckten? Fürwahr, dieser Tage konnte man kaum mehr etwas bewerkstelligen, ohne einen versierten Bürogehilfen anzuheuern, was wiederum eine finanzielle Belastung für alle darstellte, die über kein unabhängiges Vermögen verfügten. Oder die eine kluge Schwester hatten, die sich um derlei Angelegenheiten kümmerte – oder einen Earl zum Bruder, der bereitwillig die Dienste seines Sekretärs zur Verfügung stellte.
Falls die Harrington-Brüder Enricos Siegel hatten, könnte es entsprechende Korrespondenz geben. Das Siegel war ein bedeutsamer Fund gewesen, eines der wenigen Stücke, die jemals entdeckt wurden und die als Beweis für die Existenz der legendären Stadt Ambropia galten. Sofern seine Herkunft glaubhaft bestätigt wurde, verstand sich. Der Entdecker solch eines Artefakts würde großen Ruhm ernten, und seine Reputation, wie seine Zukunft wären gesichert.
Gabriella kniff die Lippen zusammen. Eine Reputation und eine Zukunft, die ihrem Bruder zugefallen wäre, hätte ihm nicht jemand das Siegel gestohlen. Nicht einmal ein Jahr war es her, seit Enrico mit dem Siegel nach London zurückgekehrt war. Gabriella lebte bei ihrem Halbbruder, seit sie zehn war und er sie bei entfernten Verwandten ihres zwei Jahre zuvor verstorbenen Vaters in Italien fand. Und noch nie hatte sie Enrico aufgeregter wegen eines Funds gesehen. Nicht dass er ihr das Siegel selbst gezeigt hätte, lediglich einen Abdruck in feuchtem Lehm, den er gefertigt hatte. In solchen Dingen war ihr Bruder außerordentlich misstrauisch gewesen. Er hatte gesagt, es brächte Unglück, das Siegel vorzeitig zu enthüllen. Schließlich war Ambropia von Mythen und Legenden umwölkt, unter ihnen ein Fluch, mit dem die jungfräuliche Schutzgöttin all jene belegte, die ihren Schlaf störten. Nun fragte Gabriella sich, ob Enrico Recht gehabt hatte.
Als er das Siegel vor dem Gutachterkomitee der Antikengesellschaft auswickelte, hielt er plötzlich ein weit minderwertigeres Fundstück in Händen. Seine Behauptung, das echte Siegel wäre ihm geraubt und durch ein relativ gewöhnliches ersetzt worden, konnte das Komitee nicht beschwichtigen, erst recht nicht, als Enrico die Beherrschung verlor und der Gesellschaft vorwarf, ihn diskreditieren zu wollen.
Danach war ihr Bruder nie wieder derselbe gewesen. Die Suche nach dem verlorenen Siegel hatte ihn vollends aufgezehrt. Funde wie dieser waren unter Forschern heiß begehrt, weshalb Enrico sicher war, dass einer seiner Rivalen das Ambropia-Siegel stahl. Er verließ London, um denjenigen nachzustellen, die er verdächtigte. In seinen Briefen an Gabriella schilderte er detailliert, welche Fortschritte er machte, und listete die Namen aller Herren auf, von denen er glaubte, sie könnten das Siegel selbst gestohlen oder einen Dieb beauftragt haben.
Allerdings wurden die Briefe zusehends irrationaler, verworrener, ja, ein bisschen wahnsinnig beinahe, was Gabriella sich zum fraglichen Zeitpunkt jedoch nicht eingestehen wollte. Ein Fehler, den sie später zutiefst bereute. Hätte Enrico Xerxes mitgenommen, den Diener, der ihn gewöhnlich begleitete, oder wäre sie mit ihm gereist, hätte er vielleicht … Aber sie hatte ihren Bruder schon lange nicht mehr auf dessen Expeditionen begleitet, nicht mehr seit jenem Ereignis, das sie als »den Zwischenfall« bezeichnete, und sie wusste, dass er es ihr niemals gestattet hätte, mit ihm zu reisen.
Dann, vor sechs Monaten, erhielt sie Nachricht, dass Enrico in Ägypten verstorben war, angeblich an einem
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