Pfand der Leidenschaft
vernünftig, dachte Amelia. Doch als sie den Mund öffnete, um ihm zuzustimmen, blieben ihr die Worte in der Kehle stecken. Und was schließlich herauskam, war ein verlegenes Lachen. »Liebe in Maßen«, wand sie ein, »ist nichts, wovon sich ein Dichter inspiriert fühlen würde.«
»Die Weltsicht eines Dichters scheint mir nicht besonders erbaulich zu sein, nicht wahr? Jeder wäre seinen Leidenschaften auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wir alle rissen uns im Namen der Liebe die Haare aus …«
»Oder würden zur mitternächtlichen Stunde einfach davonreiten«, fiel ihm Amelia ins Wort. »Lebten unsere Träume und Fantasien aus …«
»Ganz genau. Und das alles liefe zwangsläufig auf eine Katastrophe hinaus.«
»Oder auf Romantik«, sagte sie in der Hoffnung, dass er das leichte Zittern in ihrer Stimme überhörte.
»Wie eine Frau gesprochen.«
Amelia lachte. »Ja, Mr. Dashiell, ich gestehe, ich bin dem Konzept von Romantik nicht ganz abgeneigt. Hoffentlich bin ich in Eurer Meinung nicht gesunken.«
»Nicht im Geringsten. Wenn ich ehrlich sein darf …« Seine Stimme nahm einen sanfteren Ton an. »Ich würde Euch gerne wiedersehen, sobald die Arbeit in Ramsay House Fortschritte macht. Die Gesellschaft einer solch charmanten und liebreizenden Dame, die noch dazu mit Vernunft und Klugheit gesegnet ist, würde mir sehr viel bedeuten.«
»Vielen Dank«, erwiderte Amelia, und das Blut schoss ihr in die Wangen. Doch während sie den gut gekleideten Gentleman ansah, der vor ihr stand,
tauchte in ihrem Bewusstsein ein wunderschönes Gesicht mit verruchten goldenen Augen und dem Mund eines gefallenen Engels auf, dessen Kopf sich dunkel gegen den mit mitternächtlichen Sternen übersäten Himmel abzeichnete. Exotisch, unberechenbar, ein Mann, der nie vollständig gezähmt werden könnte.
Du in mir, ich in dir …
»Es wäre mir eine Ehre, Sir«, hörte sie sich sagen und fügte mit hochrotem Kopf hinzu: »Aber Ihr solltet wissen, dass ich und Mr. Rohan …«
Glücklicherweise verstand Dashiell die Bedeutung ihrer Worte sehr schnell und schien nicht einmal überrascht zu sein. »Das habe ich schon befürchtet. Ich kam nicht umhin, zu bemerken, wie sehr Rohan Euch schätzt. Er machte auf mich den Eindruck, als wollte er Euch ganz für sich allein.« Der Baumeister lächelte reumütig. »Was man ihm jedoch nicht verübeln kann.«
Geschmeichelt und gleichzeitig sprachlos richtete Amelia ihr Augenmerk zurück zum Haus. Sie war nicht gewöhnt, von Männern solche Komplimente zu hören. Ihr Blick huschte über den leicht schrägen Dachfirst. Das Haus sah verfallen und heruntergekommen aus, die Fenster klafften wie blinde schwarze Augen in der Fassade. Die Fenster … in einem von ihnen glaubte sie eine Bewegung zu erhaschen, ein verschwommener Schimmer, ein Durcheinander aus fahlem Mondlicht und verzerrten Schatten.
Ein Gesicht.
Amelia musste ein Geräusch gemacht haben, denn Mr. Dashiell sah sie eindringlich an, und sein Blick folgte ihrem zum Haus. »Was ist los?«, wollte er jäh wissen.
»Ich dachte …« Wie ein verängstigtes Kind klammerte sie sich an den Ärmel seines Überziehers. Ihre Gedanken wirbelten herum. »Ich dachte, ich hätte ein Gesicht am Fenster gesehen.«
»Vielleicht war es Barksby.«
Aber genau in diesem Moment kam Mr. Barksby um die Ecke des Hauses auf sie zuspaziert.
»Soll ich hineingehen und nach dem Rechten sehen?«, fragte Dashiell leise, und seine Augen verengten sich besorgt zu schmalen Schlitzen.
»Nein«, erwiderte Amelia rasch, rang sich ein zaghaftes Lächeln ab und ließ seinen Ärmel los. »Wahrscheinlich war es nur ein Vorhang, der sich im Wind gekräuselt hat. Ich bin sicher, dass niemand im Haus ist.«
Nachdem Dashiell und Mr. Barksby nach London abgereist waren, kehrte Cam mit Mr. Pym ins Arbeitszimmer zurück, um die letzten geschäftlichen Angelegenheiten zu klären. Da Leo sein geheucheltes Interesse an der Leitung des Anwesens nicht länger aufrechterhalten konnte, verschwand er in sein Schlafgemach. Und obwohl Cam Amelia nachdrücklich versicherte, sie sei herzlich eingeladen, dem Treffen mit Mr. Pym beizuwohnen, lehnte sie dankend ab, da sie den langwierigen Gesprächen ebenso wenig abgewinnen konnte wie ihr Bruder.
Stattdessen machte sie sich auf die Suche nach Win.
Ihre Schwester saß im Salon, zusammengekauert und mit einem Buch im Schoß in der Ecke eines Sofas. Win blätterte lustlos um, ohne die Seite gelesen zu haben, und blickte mit
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