Pfand der Leidenschaft
Steinen zu suchen.
Lillians Umgang mit dem Kind war äußerst ungewöhnlich für ein aristokratisches Haus. Normalerweise blieben Kinder auf ihren Zimmern und wurden nur kurz präsentiert, wenn Gäste erwartet wurden, und die meisten Damen in der gesellschaftlichen Position der Komtesse sahen ihre Sprösslinge höchstens ein- oder zweimal am Tag. Den Großteil der Erziehung übertrugen sie den Kindermädchen.
»Ich will sie einfach so oft wie möglich um mich haben«, erklärte Lillian offenherzig.
Als der Tee kam, saß Annie auf dem Sofa zwischen Poppy und Merritt. Das kleine Mädchen drückte den Rand der Teetasse gegen den fein gezeichneten Mund der Puppe. »Annie braucht mehr Zucker, Mama«, erklärte Merritt.
Lillian schmunzelte, wusste sie doch, wer den viel zu süßen Tee trinken wollte. »Sag Annie, dass wir nie mehr als zwei Stück Zucker in eine Tasse geben, meine Süße. Ansonsten wird sie krank.«
»Aber sie ist eine Naschkatze«, beteuerte das Kind und fügte unheilverkündend hinzu: »Eine Naschkatze, die schnell wütend wird.«
Lillian schüttelte mit einem leisen Tsts den Kopf. »Solch eine eigensinnige Puppe. Du musst streng mit ihr sein, Merritt.«
Poppy, die dem Gespräch lächelnd gelauscht hatte, setzte ein verwirrtes Gesicht auf und rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. »Oje, ich glaube, ich sitze hier auf etwas …« Sie griff hinter sich und holte ein kleines Holzpferd hervor, wobei sie vorgab, es zwischen den Seidenkissen gefunden zu haben.
»Da ist Pferdi!«, rief Merritt, und ihre kleinen Finger umschlossen überglücklich das Spielzeug. »Ich dachte schon, es sei davongelaufen!«
»Gott sei Dank«, sagte Lillian. »Das Pferd ist Merritts Lieblingsspielzeug. Das ganze Haus hat schon danach gesucht.«
Amelias Lächeln verschwand für den Bruchteil einer Sekunde, als sie Poppys Blick auffing. Beide fragten sich erschrocken, ob das Verschwinden der anderen Gegenstände bereits entdeckt worden war. Die
gestohlenen Dinge, insbesondere das silberne Siegel, mussten so schnell wie möglich an ihren Platz zurückgebracht werden. Rasch räusperte sich Amelia. »Mylady … ich meine Lillian … ich will Euch keine Umstände bereiten, aber … ich wüsste gerne, wo ich mich frischmachen dürfte …«
»Oh, natürlich. Soll ich ein Dienstmädchen holen, damit sie Euch …«
»Nein, vielen Dank, das ist nicht nötig«, fiel ihr Amelia hastig ins Wort.
Nachdem sie von Lillian die Wegbeschreibung erhalten hatte, entschuldigte sich Amelia, schlüpfte aus dem Salon und ließ die drei bei ihrem Tee zurück.
Als Erstes musste sie die Bibliothek finden, aus der die Stereoskop-Karten und der Schlüssel entwendet worden waren. Sie rief sich den Grundriss des Herrenhauses ins Gedächtnis, den Beatrix ihr geliefert hatte, und huschte den Korridor entlang. Als sie einer Dienstmagd begegnete, die den Boden fegte, versuchte sie sich den Anschein zu geben, als kenne sie sich hier hervorragend aus. Die Magd stellte ihre Arbeit für einen Moment ein und erhob sich ergeben, während Amelia vorbeischritt.
Als sie um die Ecke bog, kam sie zu einer offenen Tür, die in eine große Bibliothek mit einer imposanten Galerie führte. Amelia konnte ihr Glück kaum fassen – das Zimmer war leer! Sie rannte hinein und erblickte das Stereoskop und eine hölzerne Schatulle mit unzähligen Bildkarten auf einem wuchtigen Schreibtisch. Geschwind stopfte Amelia die Karte zu den anderen, hastete aus der Bibliothek und blieb lediglich einen kurzen Augenblick stehen, um den gestohlenen Schlüssel in das leere Schlüsselloch zu stecken.
Eine letzte Aufgabe wartete nun noch auf Amelia – sie musste Lord Westcliffs Arbeitszimmer finden und das Siegel zurückbringen. Bei jedem Schritt schlug das Gewicht des Silbers gegen ihr Bein. Lass Lord Westcliff außer Haus sein! , schickte sie ein verzweifeltes Stoßgebet gen Himmel. Lass den Raum leer sein. Lass mich noch einmal ungeschoren davonkommen .
Beatrix hatte gesagt, das Arbeitszimmer läge in der Nähe der Bibliothek, aber die erste Tür, die Amelia zu öffnen versuchte, führte ins Musikzimmer, und als sie vorsichtig die Tür auf der anderen Seite des Gangs aufschob, befand sich dort eine Besenkammer mit Eimern, Lappen, Kehrschaufeln, Wachs und Poliermitteln.
»Verdammt, verdammt, verdammt! «, fluchte sie leise und stürmte zu einer weiteren geöffneten Tür.
Es war der Billardsaal, in dem sich ein halbes Dutzend Gentlemen aufhielten – und einer von ihnen war
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