Pfand der Leidenschaft
sie war schrecklich blass und matt.«
»War sie gut gelaunt?«
»Allem Anschein nach ja.« Poppy goss heißes Wasser in eine mit Teeblättern gefüllte, angeschlagene Kanne und erzählte wie ein Wasserfall von ihren Entdeckungen. Sie hatte einen wunderschönen Teppich in einem der Schlafzimmer gefunden, und nachdem sie ihn eine Stunde lang mit einem Teppichklopfer bearbeitet hatte, waren seine satten Farben wieder zum Vorschein gekommen.
»Aber der Großteil des Staubes klebt nun an dir«, spottete Amelia. Da Poppy den unteren Teil ihres Gesichts während der Arbeit mit einem Taschentuch geschützt hatte, konnte sich der Staub nur an ihrer Stirn, den Augen und dem Nasenrücken festsetzen. Als sie anschließend das Taschentuch entfernt hatte, wirkte ihr Gesicht zweigeteilt: die obere Hälfte war grau, die untere elfenbeinfarben.
»Es war wunderbar«, entgegnete Poppy grinsend. »Es gibt nichts Besseres, als einen Teppich mit dem Teppichklopfer zu schlagen, um seinem Ärger Luft zu machen.«
Amelia wollte schon nachfragen, worüber sich ihre Schwester derartig geärgert hatte, als Beatrix die Küche betrat.
Das Mädchen, das normalerweise ein Ausbund
an Munterkeit war, wirkte bedrückt und in sich gekehrt.
»Der Tee ist gleich fertig«, sagte Poppy und schnitt am Küchentisch geschäftig das Brot in Scheiben. »Willst du auch etwas essen, Bea?«
»Nein, vielen Dank. Hab keinen Hunger.« Beatrix setzte sich auf den Stuhl neben Amelia und starrte zu Boden.
»Normalerweise hast du immer Hunger«, bemerkte Amelia. »Was ist los, meine Liebe? Fühlst du dich unwohl? Bist du müde?«
Schweigen. Dann ein entschlossenes Kopfschütteln. Irgendetwas schien Beatrix ganz offensichtlich mitgenommen zu haben.
Amelia legte ihrer jüngsten Schwester liebevoll die Hand auf den schmalen Rücken und beugte sich zu ihr. »Beatrix, was hast du? Vermisst du deine Freunde? Oder Schuppi? Bist du …?«
»Nein, es hat nichts damit zu tun.« Beatrix senkte den Kopf.
»Was ist es dann?«
»Etwas stimmt nicht mit mir.« Ihre Stimme war rau vor Kummer. »Es ist wieder geschehen, Amelia. Ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Ich kann mich kaum erinnern, dass ich es überhaupt getan habe. Ich …«
»O nein«, flüsterte Poppy.
Amelia ließ die Hand auf Beatrix’ Rücken. »Ist es dasselbe Problem wie zuvor?«
Beatrix nickte. »Ich werde mich umbringen«, sagte sie entschlossen. »Ich werde mich im Bienenzimmer einsperren. Ich werde …«
»Schsch. Du wirst nichts dergleichen tun.« Amelia
rieb ihr fest über den Rücken. »Ganz ruhig, meine Liebe, und lass mich einen Moment nachdenken.« Ihr besorgter Blick traf über Beatrix’ gesenktem Kopf den von Poppy.
Das ›Problem‹ war im Laufe der vergangenen vier Jahre immer wieder aufgetaucht, seit ihre Mutter gestorben war. In gewissen Abständen erlag Beatrix dem unwiderstehlichen Drang, etwas zu stehlen, sei es aus einem Geschäft oder dem Haus eines Bekannten. Normalerweise handelte es sich beim Diebesgut um Nichtigkeiten … eine kleine Schere, ein paar Haarnadeln, eine Schreibfeder, eine Stange Siegelwachs. Aber gelegentlich kam es vor, dass Beatrix etwas Wertvolles mitgehen ließ, eine Schnupftabakdose oder einen Ohrring. Soweit Amelia die Sache beurteilen konnte, plante ihre Schwester diese kleinen Vergehen nie – vielmehr war sich das Mädchen häufig erst im Nachhinein bewusst, was sie getan hatte. Und dann plagten sie schreckliche Schuldgefühle, und sie bekam es mit der Angst zu tun. Es war entsetzlich, feststellen zu müssen, dass man nicht immer Herr über sein Handeln war.
Die Hathaways hielten Beatrix’ Problem natürlich streng geheim und fanden stets einen Weg, die gestohlenen Gegenstände unbemerkt zurückzubringen, um das Mädchen vor den Folgen zu schützen. Da der letzte Diebeszug nun schon fast ein Jahr her war, hatten sie alle angenommen, Beatrix sei von ihrem unerklärlichen Zwang geheilt.
»Vermutlich hast du etwas von Stony Cross Manor mitgehen lassen«, sagte Amelia mit gezwungen ruhiger Stimme. »Das ist der einzige Ort, an dem du zu Besuch warst.«
Beatrix nickte kläglich. »Es ist passiert, nachdem ich Schuppi die Freiheit geschenkt habe. Ich bin in die Bibliothek gegangen und habe auf dem Weg in ein paar Räume geschaut … Ich wollte es nicht, Amelia! Ich wollte es wirklich nicht!«
»Das weiß ich doch.« Amelia umarmte sie tröstend. Ihr Mutterinstinkt war geweckt. Sie wollte ihre Schwester beschützen, beruhigen, ihr Leid lindern.
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