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Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Titel: Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carin Gerhardsen
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schrittweise nachlassen, und am Ende gäbe es dann nur noch den großen, unerträglichen Durst. Wie lange kann man ohne Flüssigkeitszufuhr überleben? Eine Woche? Zwei Wochen? Sie spürte noch keinen Hunger, aber ihr Mund war schon ganz trocken, so trocken, dass sie Schwierigkeiten hatte zu sprechen. Doch es waren die Schmerzen in den Handgelenken und das unangenehme Klopfen des Pulses in ihren Fingerspitzen, die den größten Teil ihres Bewusstseins in Anspruch nahmen. Es fühlte sich an, als würden ihre Hände bersten, und sie wünschte sich, dass endlich alles Gefühl aus ihren Händen weichen würde.
    Zuerst hatte sie gar nicht verstanden, wer diese aufdringliche Frau war und was sie eigentlich von ihr wollte, aber Katarina hatte ununterbrochen geredet, und schließlich waren ihre Worte zu ihr durchgedrungen. Sie war eines der Kinder aus der Vorschulklasse, die auch der ermordete Hans Vannerberg vor siebenunddreißig Jahren besucht hatte. Sie sei von den anderen Kindern schlecht behandelt worden. Ingrid habe als Lehrerin nichts unternommen, um diesem Treiben ein Ende zu setzen.
    Die Frau war offensichtlich vollkommen geisteskrank. Dennoch verstand Ingrid nicht, warum ausgerechnet sie in den Mittelpunkt dieses Irrsinns geraten war. Sie hatte in ihrem Beruf immer ihr Bestes gegeben, war fröhlich gewesen und immer nett zu den Kindern, und sie hatte das Gefühl, dass die Kinder sie gemocht hatten. Sie hatte viele Jahre lang hart gearbeitet in dieser Vorschule, hatte den Kindern Nähen und Werken beigebracht, mit ihnen gesungen und Spiele mit ihnen gespielt. Natürlich waren die Kinder manchmal auch streitlustig und zankten miteinander, aber solange Ingrid dabei war, hatte es niemals irgendwelche Schlägereien oder Misshandlungen von der Art gegeben, wie Katarina sie beschrieben hatte.
    Irgendwo musste man eine Grenze ziehen. Die Grenze war die Schulpforte, und um zwölf war ihre Aufgabe erledigt. »Du wusstest, was anschließend passierte, du hättest mit den Kindern reden können«, hatte Katarina gesagt. Ingrid hatte nicht die leiseste Erinnerung an irgendeine Misshandlung, hatte aber trotzdem geantwortet: »Ich war Lehrerin und keine Kinderpsychologin.« Katarina hatte darauf nichts mehr gesagt, sondern sie an Händen und Füßen gefesselt und auf das Sofa gelegt.
    Dann hatte Katarina ununterbrochen auf sie eingeredet. Dass Ingrid doch ein Mensch sei und dass man als Mensch nicht einfach danebenstehen und zusehen könne, wie andere Menschen – Kinder – einander ins Unglück stürzten. Doch Ingrid wusste, dass man genau das eben doch konnte. Dass es sogar die einzige Möglichkeit war, das Leben durchzustehen. Sie hatte schon als kleines Mädchen gelernt, dass man sich bloß nicht einmischen durfte. Dass es am besten für alle war, sich rauszuhalten, wenn der Vater handgreiflich wurde und die Mutter verprügelte. Sie lebten in einer bösen und hässlichen Welt. Wenn sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte, dann war das Dasein erträglicher. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, hatte sie gedacht, und du, Katarina, bist es auch. Das hatte sie ihr natürlich nicht ins Gesicht gesagt, aber sie wusste, dass das Leben so funktionierte.
    Die Schmerzen in ihren Händen wurden immer schlimmer, mittlerweile war es kaum mehr auszuhalten.
    »Bitte, Katarina, kannst du die Bänder nicht ein bisschen lockern. Es tut so schrecklich weh.«
    »Das Leben tut eben weh«, antwortete Katarina mit einem Lächeln. »Du bist deines eigenen Glückes Schmied, also mach das Beste aus deiner Situation.«
    Diese Frau hatte ihre Gedanken gelesen, und sie hatte nicht die Absicht, irgendetwas zu unternehmen, was ihre Qualen lindern könnte. Sie spürte, wie sich der Hunger langsam anschlich. Seit langer Zeit schon hatte sie keinen Appetit mehr, das Essen schmeckte ihr einfach nicht mehr, doch vom Hunger wurde sie hin und wieder wie alle anderen Menschen auch gepackt, und dann stopfte sie einfach irgendetwas in sich hinein, damit ihr nicht schlecht oder schwindelig wurde. Jetzt lag sie vollkommen hilflos da, hungrig, durstig und mit starken Schmerzen, und es würde vermutlich noch schlimmer werden. Katarina hatte gesagt, dass sie in ihrem Haus wohnen würde, bis die Zeit gekommen und Ingrids Uhr abgelaufen wäre.
    Es gab keine Hoffnung, dass jemand zu Besuch kommen oder sie auch nur vermissen würde. Sie war ganz allein auf dieser Welt, und sie spürte, wie die Tränen zu strömen begannen, als sie daran dachte. Sie

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