Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
passiert?«, fragte Katarina.
»Ich habe mir den Oberschenkelhals gebrochen. Alte Menschen …«
»Du bist doch nicht alt«, sagte Katarina mit einem Lächeln. »Aber ich kann mich um dich kümmern.«
Vorsichtig zog sie die Tür hinter sich zu und stellte ihren Koffer auf dem Fußboden ab. Aus einer Seitentasche des Koffers zog sie dann die alte Fotografie hervor.
»Schau hier«, sagte sie fröhlich und stellte sich dicht neben ihre alte Lehrerin. »Das bin ich. Kannst du dich jetzt an mich erinnern?«
Sie spürte, dass Ingrid Johanssons Blicke immer noch auf sie gerichtet waren und nicht auf das Foto, und schenkte ihr erneut ein aufmunterndes Lächeln.
»Schau!«
Ingrid tat wie geheißen.
»Nein, ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht an dich. Aber ich habe wirklich keine …«
»Warte, ich helfe dir«, fiel ihr Katarina ins Wort. Sie holte einen Hocker und stellte ihn hinter Ingrid. »Setz dich.«
Sie selbst setzte sich ihr gegenüber auf den Koffer, und nach einem kurzen Zögern ließ sich Ingrid auf den Hocker sinken. Sie sagte nichts und hatte ihr Lächeln immer noch nicht erwidert, sodass Katarina beschloss, mit ihrer Geschichte zu beginnen.
Sie erzählte von Hans und Ann-Kristin und all den anderen Kindern. Sie erzählte von Terror, Misshandlungen und Einsamkeit und davon, wie ihr Leben nach der schweren Zeit in der Vorschule verlaufen war. Zu keinem Augenblick machte sie ihrer alten Vorschullehrerin Vorwürfe wegen all des Schrecklichen, das sie durchgemacht hatte.
Aber Ingrid sagte am Ende nur:
»Für das, was außerhalb der Vorschule passiert ist, trage ich keine Verantwortung. In meiner Schule hat sich niemand geschlagen.«
Katarina versuchte, ihrer alten Lehrerin verständlich zu machen, dass es sich nicht nur um Schläge und Tritte gehandelt hatte, sondern um die ganze vergiftete Atmosphäre in der Klasse. Sie konnte ihre Tränen kaum zurückhalten, und einmal legte sie ihre Hand auf die der Lehrerin, doch die Lehrerin schob sie mit einer entnervten Miene resolut zur Seite.
Ingrid musste sie verstehen. Sie wollte eine Reaktion, sie suchte Trost und Entlastung von den schrecklichen Bildern, die sie verfolgten. Sie erzählte ihr, warum sie Hans Vannerberg hatte umbringen müssen, warum sie auch Ann-Kristin, Lise-Lott und Carina aufgesucht hatte.
Ingrid saß auf ihrem Hocker, regungslos. Sie beobachtete sie schweigend, ohne eine Miene zu verziehen.
»Darf ich bei dir übernachten?«, fragte Katarina, als ihr die Worte ausgingen. »Ich bin so schrecklich müde.«
»Nein«, sagte Tante Ingrid. »Das darfst du nicht.«
In der Diele war es still geworden. Die beiden Frauen saßen sich gegenüber und beobachteten einander. Der Koffer mit dem bisschen Kleidung zum Wechseln, ein paar Waschutensilien und ihren Tagebüchern wurde allmählich unbequem. Langsam dämmerte Katarina, dass auch hier für sie nichts zu erwarten war. Keine Wärme, kein Trost. Ihre Tante Ingrid, die sie so geliebt hatte, konnte sich einfach nicht an sie erinnern. Und noch weniger war sie daran interessiert, Katarina von ihrer Last zu befreien. Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Lebensgeschichte sprach aus diesem Gesicht. Und Gleichgültigkeit war eine Todsünde.
*
Jetzt lag Ingrid auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ihre Handgelenke schmerzten von der fest angezogenen Schnur, die in ihre nackte Haut schnitt, es pochte in ihren blau anlaufenden Fingern. Auch ihre Füße waren zusammengebunden, aber die Schmerzen waren dort weniger stark zu spüren. Unten war alles ganz nass, und sie zitterte leise, während sie in ihrem erkaltenden Urin lag.
»Ich möchte dir nichts Böses tun«, hatte Katarina gesagt. »Ich werde dir nichts tun. Genau wie du werde ich einfach nichts tun. Ich werde dich einfach hier liegen lassen, bis du in deinem eigenen Dreck vergammelst. Du wirst kein Essen bekommen, kein Wasser und keine Medizin. Ich werde dich nicht quälen, die Qual wird in dir selbst entstehen. Dein Hunger, dein Durst, dein schlechtes Gewissen, deine Bedürfnisse nach diesem oder jenem. Ich werde deine Bedürfnisse nicht befriedigen. Du bist schließlich für dich selbst verantwortlich, nicht wahr? So siehst du das doch, oder?«
Ingrid hatte dem, was diese Frau sagte, zunächst keine Beachtung geschenkt, aber mittlerweile waren viele Stunden vergangen, und sie hatte ausreichend Zeit gehabt, um zuzuhören und nachzudenken. Wie lange dauerte es, bis man verhungert war? Das würde wahrscheinlich keine Rolle spielen, denn der Hunger würde
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