Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
wusste nicht, wann sie das letzte Mal geweint hatte, es musste viele Jahre her sein, vielleicht als ihre Schwester gestorben war. Sie hatte keine Kinder, und ihren Mann, ihre Eltern und ihre Geschwister hatte sie verloren. Die wenigen Freunde, die sie in all der Zeit gehabt hatte, waren alt geworden und gestorben oder aus einem anderen Grund verschwunden. Viele von ihnen hatte sie verlassen, als sie nach Stockholm gezogen war. Es war schwer, alt zu werden, schwer, einsam zu sein. Niemand, mit dem man reden konnte, niemand, mit dem man nette Dinge unternehmen konnte. Niemand, der sie aus einer Situation wie dieser befreien konnte.
*
Katarina stand in der Küche und untersuchte den Inhalt von Ingrid Johanssons Gefrierschrank. Er enthielt hauptsächlich Brot, aber auch Äpfel und Pflaumen und gezuckerte Beeren. Außerdem gab es eine Reihe von Tüten mit selbst gemachten Fleischklößchen und ein paar Packungen mit Fertiggerichten. Im Kühlschrank fand sie große Mengen von Kartoffeln, und in der Speisekammer hatte sie sowohl Reis als auch Konservendosen entdeckt. Sie würde keine Not leiden müssen. Hier gab es für viele Wochen genug zu essen.
Als sie darüber nachdachte, wie lange das Ganze hier wohl dauern könnte, wurde sie unruhig. Auf der einen Seite spürte sie den Impuls, alles so schnell und so schmerzhaft wie möglich zu beenden, aber auf der anderen Seite wusste sie, dass die Qual für Tante Ingrid umso größer sein würde, je länger es dauerte. Der wichtigste Faktor war in diesem Fall die zeitliche Ausdehnung, die Gewissheit der alten Frau, dass es mit ihrem Tod enden würde, und die Ungewissheit darüber, wie lange es noch dauern würde. Genau das war schließlich auch der Sinn dieser Sache hier: dass es ewig dauern sollte und dass sie selbst nicht mehr eingreifen würde.
»Ein Exempel statuieren«, murmelte sie vor sich hin.
Die Wortwahl war lächerlich, weil es sich kaum lohnte, einem Menschen etwas vor Augen zu führen, der ohnehin bald sterben würde, aber trotzdem hatte sie genau das vor. Sie musste sich zusammennehmen und nichts überstürzen, sonst würde sie es später bereuen.
Sie schälte Kartoffeln und ließ sie in einen Topf fallen, den sie anschließend auf den Herd stellte. Dann suchte sie sich eine alte gusseiserne Pfanne heraus und tat ein wenig Margarine hinein. Sie beobachtete, wie die Margarine langsam in der Bratpfanne schmolz, und als sie ein bisschen daran herumruckelte, begann es zu brutzeln. Die Tüte mit den Fleischklößchen war steinhart, aber mit Hilfe eines Küchenmessers gelang es ihr, ein paar Stückchen loszuhacken, die sie ins Fett kullern ließ. Aus dem Wohnzimmer meinte sie ein ersticktes Schluchzen zu hören. In der Pfanne begann es zu knallen, als das Eis schmolz. Ein Tropfen heißer Margarine spritzte heraus und traf sie im Auge.
Ohne zu wissen, warum, rannte sie ins Wohnzimmer hinüber, setzte sich rittlings auf die alte Frau und schlug ihr mit geballten Fäusten immer und immer wieder ins Gesicht. Dann griff sie mit beiden Händen in die grauen Haare und schlug den Kopf mit aller Macht gegen die Armlehne des Sofas. Irgendwo in dem dünnen Körper unter ihr knackte es, und Ingrid schrie vor Schmerzen auf.
»Halt die Klappe, du alte Kuh!«, schrie Katarina.
Ingrid kniff das Gesicht zusammen und verstummte.
»Das dauert alles viel zu lange hier, viel zu lange! Ich weiß nicht, wie lange ich deine hässliche Visage noch ertragen kann. Krepier doch endlich! Krepier doch, dann sind wir fertig!«
Die Alte schien das Bewusstsein zu verlieren, wahrscheinlich vor Schmerzen durch den erneuten Bruch des Oberschenkelhalses.
»Antworte mir!«, brüllte Katarina und schüttelte sie weiter. »Du sollst antworten, wenn ich mit dir rede!«
»Du hast doch gesagt, dass ich still sein soll«, wimmerte Ingrid, und ihre Worte waren kaum zu hören.
»Aber jetzt sage ich dir, dass du antworten sollst! Hast du dir das Bein wieder gebrochen, du dummes Stück?«
Ingrid nickte, und Katarina sah, dass sie das Wort »Oberschenkelhals« zu artikulieren versuchte, aber es verschwand zusammen mit ihr irgendwo in der Dunkelheit einer Ohnmacht. Katarina schüttelte sie weiter, gab aber auf, als sie bemerkte, dass sie die alte Lehrerin in ihrer Bewusstlosigkeit nicht mehr erreichen konnte.
Sie ließ sie liegen, schnappte sich die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher an. Sie zappte eine Weile von Kanal zu Kanal und stellte zu ihrer Freude fest, dass sie hier MTV empfangen
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