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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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übermannshoch vergittert, weniger um die Reitschüler vor Pferdebissen zu schützen als vielmehr die Pferde vor den allfälligen Zärtlichkeiten tierverliebter Mädchen.
    Es war Hajo, der langsam den Stallgang entlangging. Er sah aus, als lausche er dem, was die glucksenden und Heu malmenden Pferde ihm zu erzählen hatten. Die etwa zwanzig Schulpferde waren von jenem buntscheckigen Rassegemisch, das sich in jedem Reiterhof ansammelt, der übriggebliebene Privatpferde und altgediente Freizeitgäule nicht sofort dem Pferdemetzger überlassen will. In der Sattelkammer hingen die Sättel säuberlich auf beschrifteten Holmen. An der Tür lehnte die Mistgabel. Die Boxentür von Prinz lag schräg gegenüber. Das Pferd dahinter war ein schwarzer Wallach.
    Hajo drehte sich am Ende des Stallgangs um.
    Als ich die Hand auf den Riegel an Prinz’ Boxentür legte, kehrte der Wallach mir sein mächtiges Hinterteil mit dem Württemberger Brand zu. Den Schädel hatte er erhoben, die Ohren flach angelegt.
    »Da können Sie nicht rein«, sagte Hajo, der plötzlich neben mir war und schnell die Hand nach dem Riegel ausstreckte. »Sehen Sie denn nicht, dass er ausschlagen wird. Das sollten Sie aber erkennen.«
    Keine Drohung ist selbst für den Laien so unmissverständlich wie angelegte Ohren und ein zugekehrtes Hinterteil. Mindestens genauso deutlich war die Entschlossenheit Hajos, mir keine Gelegenheit zu geben, ihm in Sachen Pferdeverstand das Wasser zu reichen. Hätte ich Reithosen angehabt, wäre ich mit der Gerte in die Box gegangen und hätte Prinz verdroschen, sobald er einen Huf hob, bis er das Unterlegenheitskauen angefangen hätte. Mir fiel ein, dass schon zu meiner Zeit ein Schulgaul namens Prinz als notorischer Schläger gegolten hatte. Aber in diesem Moment ging es weniger um ein übellauniges Pferd, das gelegentlich die Machtfrage stellte, wenn es allzu unsachgemäß angegangen wurde, sondern um die Überlegenheit, die Hajo aufführte, indem er mir die Grundlagen des Umgangs mit Pferden erklärte. Vielleicht ging es aber auch noch um etwas anderes. Darum, dass ich keinen Blick in die Box warf.
    »Und schlägt er auch nach Ihnen?«, fragte ich kalt.
    Hajo schürzte die Lippen, schob den Riegel zurück und schnalzte mit der Zunge. Prinz fuhr die angelegten Ohren hoch und linste mit dem Auge über die Kruppe. Ohne Zögern schob Hajo die Boxentür auf, während Prinz sich bereits umdrehte und ihm den riesigen Schädel entgegenstreckte. Sofort griff Hajo ihm ins Halfter und schob ihn von der Boxenschwelle zurück.
    Julias Schrei gellte mir wieder in den Ohren, aber ich glaube, weder Hajo noch ich gaben einen Ton von uns.
    Vor Prinz’ tellergroßen Hufen lagen verklebt von Mist und Stroh lederne Reitstiefel. Der zweite und dritte Blick war unerträglich, eigentlich unausführbar. In den Reitstiefeln steckten Beine, die aus den Kniegelenken gedreht waren. Am Schenkel war das Fleisch samt roter Reithose vom Knochen getreten. Eine blaue Reitweste bauschte unter Stroh und Mist. Der Brustkorb war zer matscht, das Gesicht war in der Urinrinne hinter der Boxenwand mit Mist und Stroh eine unmenschliche Verbindung eingegangen. Es gab kein Gesicht mehr, nur Scheiße und Blut und Haare.
    Ich weiß nicht, warum ich glaubte, dass es die Leiche einer Frau war, wahrscheinlich wegen der Stiefelgröße. An irgendetwas erkennt man das todsicher. Ob jung oder alt, groß oder klein, war nicht zu entscheiden, denn die Glieder hatten kaum noch Bezug zueinander.
    Aus Hajos Miene war jeder Triumph verschwunden. Auch solche Männer traf der Schock. Auch sie vergaßen für Sekunden zu beweisen, dass sie alles unter Kontrolle hatten. Ihm rutschte die rüde Maske vom Gesicht und zeigte die Gräben einer schrecklichen Sammlung von Katastrophen, die ihn in vielleicht vierzig Jahren Leben bereits angefallen hatten. Ich roch seine Angst, die Angst vor dem Ende.

4
     
    O Gott, was für ein Tod! Nein, was für eine grässliche postmortale Zerstörung. Was für ein furchtbares Pferd, das Hajo da am Halfter festhielt, damit es nicht noch einmal in die Leichenteile trat. Als ob es darauf noch ankam. Die Ewigkeit fiel in Sekunden zusammen, in Hajo kam Leben. Seine gletschereisfarbenen Augen sprangen mich an, als sei ich verantwortlich dafür, dass sich plötzlich alles nach links wendete, dass sich der Teufel zeigte, dass sich das Böse reckte, dass Pferde immer Pferdefüße haben. Der gemeine Zug um seinen Mund war wieder da, diese schmutzige Mischung aus

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