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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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keilten knallend gegen die Wände. Ich sah, wie Siglinde nach einer Mistgabel griff, als könnte sie damit den kreischenden Horror beenden. Mir klirrten die Ohren. Die Nerven schrillten. Ohne zu überlegen, fing ich die Fäuste des Mädchens ab und ohrfeigte sie mit aller Kraft. Der Schrei verröchelte. Das Mädel fiel in sich zusammen.
    Stille ächzte durch den Stall. Die Pferde standen und spitzten die Ohren. Auf dem kalten Pflaster des Stallgangs lag ein dickliches Mädchen im nabelfreien Kurz-Shirt und Schlagjeans von vielleicht dreizehn Jahren, eines jener Mädchen, die überall dort auftauchen, wo mehr als zwei Pferde beisammenstehen, um einen Lieb ling mit Brot, Zucker oder Mohren zu erfreuen. Mir kehr te die Besinnung zurück und damit die Angst, ich könnte mit meinem Schlag den lebenswichtigen Halsnerv getroffen haben. Aber das Mädchen lebte. Allerdings hatte sie die Augen ins Hirn verdreht.
    »Ein Notarzt muss her.«
    Allerlei gestiefelte und ungestiefelte Leute waren mittlerweile in den Schulstall gestürzt, die Augen noch schreckgeweitet von dem irrsinnigen Geschrei. Siglinde stellte die Mistgabel wieder an die Wand neben der Tür der Sattelkammer und atmete aus. »Ein Notarzt … ja. Mein Gott.« Sie wandte sich an die herumstehenden Leu te. »Holt einer mal Dr. Hilgert. Ich habe ihn vorhin irgendwo gesehen.«
    Jemand ging. Siglinde strich sich die Locken aus dem Gesicht und gewann plötzlich ihre Linie wieder.
    »Was macht ihr überhaupt hier?«, fuhr sie die beiden anderen Mädels an, die sich wie zwei Schafe an die gegenüberliegende Boxenwand drückten.
    »Wir haben nichts gemacht! Ehrlich nicht. Julia wollte nur Prinz ein paar Mohren geben.«
    »Ich habe euch schon hundert Mal gesagt, ihr sollt Prinz in Ruhe lassen«, fuhr Siglinde auf. »Das ist kein Pferd zum Streicheln. Wann begreift ihr das endlich? Er schlägt euch noch mal tot. Raus hier jetzt. Alles raus, aber ein bisschen plötzlich. Und ich will euch hier morgens nicht mehr sehen. Eure Reitstunde ist am Nachmittag.«
    Mir dröhnten die Ohren. Ich hatte vergessen, wie schnell in Reitställen gebrüllt wurde, wenn irgendetwas schiefging. Das war es, was mich anwiderte, auch wenn ich einsah, dass man in dem von Missverständnissen geprägten Miteinander von Mensch und Pferd schon mal brüllte, um einen Unfall zu verhindern. Dreizehnjährige Mädchen begriffen selten, dass Reiten ein reiner Machtsport war und kein Tierliebhaben.
    »Wir brauchen einen Notarzt«, meldete ich mich wieder. Das Mädchen war kalkweiß und ihre Haut trotz der sommerlichen Temperaturen bedenklich frostig. Mein Handy war leider mit der Handtasche im Wohnhaus geblieben.
    »Ach ja«, sagte Siglinde, bückte kurz auf die Halblei che am Boden und verließ den Stall.
    Auch leichte Klapse auf die Backe brachten das wie knochenlos hingeworfene Mädel nicht zu Bewusstsein. Die Umstehenden mutmaßten, sie habe einen Huftritt von Prinz abgekriegt. »Prinz« stand an der Boxentür schräg gegenüber. Im Dunkel dahinter zeigte ein riesenhaftes Pferd sein Hinterteil. Auf jeden Fall hatte Julia einen Schock erlitten. Jemand schlug frische Luft vor. Jeweils drei vergriffen sich auch sofort an den jeansbehosten Beinen. Ich griff der Bewusstlosen unter den Achseln hindurch, legte ihren Unterarm vor den Bauch und hob sie an. So ließ sich das Kind bequem vor die Stalltür schaffen und auf eine Bank betten.
    Von der Arsbrücke kam auch schon langen Schrittes ein gestiefelter Mann mit grauen Schläfen und blassem Bürogesicht, Dr. Hilgert, Vingener Kinderarzt und Autoliebhaber. So manches Vingener Kind hatte sich von ihm auf die Mandeln schauen lassen und war ihm dann sonntags zur Hand gegangen, wenn er unter seinem Opel Kapitän lag und nach Schraubenschlüsseln tastete.
    Er legte den Zeigefinger an den Puls des Mädels. »Wahrscheinlich ein Hitzschlag. Diese Mädchen trinken alle zu wenig.«
    Die beiden anderen Mädchen nutzten die Aufmerksamkeit der Umstehenden, um noch einmal zu versichern, dass sie schuldlos seien. Julia habe plötzlich losgeschrien.
    Im Augenwinkel sah ich, dass die Schiebetür des Schulstalls sich bewegte. Der, der eben hineingehuscht war, zog sie von innen zu. Aber sie rollte ein Stück wieder auf. Ich verließ den Sonnenschein und zwängte mich durch den Spalt. Schwarz imprägniert von Urin buckelte das Kopfsteinpflaster zwischen den Boxen, deren Zwischenwände noch gemauert waren. Neu waren nur die Holzwände zum Stallgang mit den Schiebetüren, alle

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