Pferdekuss
übertrug.
»Vielleicht kennst du sie«, sagte ich. »Rote Reithosen, blaue Reitweste, neue Lederstiefel, dunkle Haare, Alter ungewiss, eher jung.«
Siglinde schüttelte wieder den Kopf.
»Und was macht ein junges Mädchen morgens in Reitbekleidung im Schulstall?«, sagte ich. »Ihr habt doch keine Reitstunden am Vormittag? Oder?«
Siglinde schüttelte den Kopf.
»Dann hätte sie bei den Privatpferden herumspringen müssen, aber nicht bei den Schulpferden. Oder sie liegt dort schon seit gestern. Wann wurde der Schulstall zum letzten Mal ausgemistet?«
»Wir fangen überall morgens um sechs an. Um sieben wird gefüttert.« Siglinde zog die schwarzen Brauen zusammen. »Dieser Aggi, den bring ich um. Wo ist der überhaupt?«
»He! Wir haben schon eine Leiche.«
Siglinde schnaubte. »Aggi ist für den Schulstall zuständig. Ein fauler Hund. Wahrscheinlich hat er wieder mal Prinz’ Box nicht gemacht. Prinz macht immer The a ter. Das weißt du doch noch. Man muss ihn draußen anbin den, während man ausmistet.«
Für mich waren die Burschen im Schulstall immer der reine Horror gewesen, entweder halb betrunken oder brüllend, bucklig oder schwachsinnig, Befehlsempfänger, unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Man nahm in der Regel nicht die besten Knechte für die Pferde, die man an Anfänger auslieh.
»Dem werde ich was husten!« Siglinde drehte auf dem Absatz um. »Der liegt bestimmt noch im Bett.« Sie schritt mit langen trockenen Beinen und breitem Becken aus. Der Lederbesatz an ihrem Hintern knitterte energisch. Ich eilte ihr auf Pomps hinterher. An einer Stallecke stand Hajo und stierte uns nach. So ein Blau, wie es seine Augen hatten, gab es in der freien Natur nicht.
Siglinde stieß die Tür zum Hauptgebäude auf. Das Bü ro gleich rechts war nicht abgeschlossen. Sie kam mit einem größeren Schlüsselbund wieder heraus und sprang die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, am Reiterstüble im ersten Stock vorbei, hinauf in den Gesindestock.
Es roch nach kalten Satteldecken und verschwitzten Betten. Mir verging augenblicklich die Lust, hinter einer der nummerierten Türen des Gangs einen Stallknecht im Bett zu erwischen; Siglinde brauchte ihren Schlüsselbund nicht. Tür Nummer drei war nicht abgeschlossen. Mir reichte ein Blick in das enge Zimmer mit Schlafstatt, Schrank und Waschbecken und leerer Flasche Korn auf den Dielen. Aber Siglinde musste den Betrunkenen aus den fleckigen Laken reißen. Der unrasierte Bursche, der da in Hosen und Schuhen lag, drehte nur für Sekunden die Augen aus den Stirnhöhlen ans Licht, schmatzte, grunzte und fiel wieder nach hinten. Sein Kinn war eine Karikatur des Gallion’schen Kinns, ein Runksen von grotesk dummen Ausmaßen über einem spitzen Kehlkopf.
»Der ist hinüber«, stellte ich von der Tür aus fest.
Siglinde wischte sich die Hände am Hinterleder ab und grinste grimmig. »Ich hätt ihn ja schon längst gefeuert. Aber wo kriegt man heutzutage noch Stallburschen her?« Sie kam heraus und zog die Tür zu. »Wenn der eine Flasche in die Hand kriegt, macht er sie leer.«
»Und wer hat heute Morgen dann die Schulpferde gefüttert?«, fragte ich. »Zumindest Prinz hatte Heu.«
Siglinde zuckte mit den Schultern. »Vielleicht Hajo. Er hat einen sechsten Sinn dafür, wenn irgendwo Pferde unruhig sind.« Heu und Hafer fütterte man durchs Gitter, ohne die Türen aufzumachen.
Im Büro warf Siglinde den Bund mit den Gesindezimmerschlüsseln auf den Tisch und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Ihre Augen glitten etwas verloren über das Fenster zum Hof, den grauen Tisch mit dem Verwaltungscomputer, den grauen Schrank und den Dielenboden mit den Sägespänen und Erdkrümeln, die man immer mit Schuhen und Stiefeln hereinschleppte, und blieben am Telefon hängen.
»Ich muss wohl Schimmel anrufen, damit er Prinz einschläfert. Das Pferd ist nicht mehr tragbar. Gott sei Dank sind wir versichert.«
Ich konnte Siglinde diesen Satz nicht verdenken. Sie war mit Pferden groß geworden. Für sie war es eine ausgemachte Dummheit, sich von einem als Schläger bekannten Pferd in der Box tottreten zu lassen. Sie begriff nicht, dass jemand die Drohmimik eines Pferdes missverstehen konnte.
»Ich fürchte«, sagte ich, »man wird euch die Frage stellen, warum ihr ein so gefährliches Pferd wie Prinz als Schulpferd haltet.«
»Prinz ist nicht gefährlich! Natürlich muss man aufpassen, aber bei Pferden muss man immer aufpassen. Das weißt du doch. Das muss ich dir
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