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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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sexueller Angriffslust und intellektueller Defensive. Aber Fatalismus auch nach den Sekunden reinen Entsetzens.
    Schnell machte er die Boxentür zu, hieb den Riegel in die Halterung, drehte wortlos um und eilte aus dem Stall. Zurück blieb der Geruch nach Drama. Bedrängt vom Gefühl, hier habe sich auf einmal alles zusammengeballt, was in meiner Vergangenheit an dunklen Punkten herumlag, verlor ich kurzfristig die Orientierung. Ich merkte es, als ich gegen die Mistgabel stieß, die gegenüber neben der Tür zur Sattelkammer lehnte. Mistgabeln sind immer gefährlich. Einem alten Stallreflex folgend, stellte ich sie aus der Bahn, hinein in die Sattelkammer zwischen Sättel und Wand. Jetzt war Ordnung notwendiger denn je.
    Draußen knallte die Sonne. Dr. Hilgert saß inzwischen allein auf der Bank bei der immer noch ohnmächtigen Julia. Selig die, die so in Ohnmacht fallen konnten. Vielleicht würde das Mädel sich nie an das erinnern, was sie da gesehen hatte, als sie Prinz mit Möhren lockte und dabei in die Box blickte. Gut, dachte ich, dass ich auch nie gesehen hatte, wie der Ast des Birnbaums Todts Hals durchbohrte.
    »Ist Ihnen nicht gut«, sagte der gestiefelte Arzt, »Sie sehen blass aus. Nicht, dass Sie mir auch noch umkippen. Übrigens, ich heiße Hilgert, Norbert Hilgert.«
    »Lisa Nerz. Ich bin Siglindes … äh … Schwägerin.« Bei Verwandtschaftsbezeichnungen war ich immer unsicher.
    »Dachte ich mir doch, dass ich Sie kenne.«
    Obgleich die meisten Reiter per du sind, waren Dr. Hilgert und ich es offenbar nicht. Er hatte zwar auch meine Masern behandelt, und ich hatte mit andern Kindern auf der Straße gestanden, während er im Motor eines Opel Kapitän schraubte, aber als ich im Gestüt lebte, hatten wir nicht genügend miteinander zu tun gehabt, um uns als erwachsene Menschen zu verbrüdern.
    »Ihr schönes Kostüm«, bemerkte er. »Das ist fällig für die Reinigung. Sie sehen wirklich blass aus. Setzen Sie sich lieber.«
    »Nur die Hitze.« Hätte ich Reithosen getragen, hätte der Arzt mich nicht halb so gesprächserpicht angeschaut. Ich vergaß oft, dass meine Signale für Männer schrill waren, wenn ich versuchte, mich unter Rock und Bluse zu verstecken. Hier im Kaff, allemal unter den gestiefelten Amazonen, die mit lauter Stimme und rabiater Hand als Herrinnen gegen ihre Tiere auftrumpften, versprach hellgraues Leinen mit roten Webstreifen Abenteuer. Nur dass mir nach ländlichen Abenteuern nicht der Sinn stand.
    Ich traf Siglinde auf der Arsbrücke.
    »Der Notarzt ist unterwegs, die Polizei kommt. Ich habe Hajo noch nie so … so verrückt gesehen …«
    Das traf es nicht. »Erschrocken«, schlug ich vor.
    »Ja, erschrocken. Er war kreidebleich.«
    Siglinde schüttelte den kleinen verbalen Missgriff ab. Im Grunde hatte sie es in ihrer Unfähigkeit, sich auf das richtige Wort zu besinnen, viel genauer getroffen. Ich hatte selbst gesehen, wie Hajos Maske sich verschob. Aber bitte keine Wortklauberei in diesem Moment.
    »Wie?«, fragte Siglinde. »Ich meine …«
    »Möchtest du wirklich wissen, wie die Leiche aussieht?«
    »Ich werde diesen dummen Gören den Zutritt zum Stall verbieten müssen.«
    Das ging am Problem vorbei. »Die Mädels können nichts dafür. Die Leiche liegt da schon länger. Und sie trägt Reitzeug. Reiterinnen kannst du den Zutritt zum Stall doch nicht verbieten. Hat Hajo gesagt, wer es ist? Hat er sie erkannt?«
    Siglinde schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
    Auf einmal sah sie aus, wie ich sie von früher kannte, wie das Kind, das erwachsen sein will, weil es begriffen hat, dass Erwachsene ihre Unsicherheit hinter Macht verstecken dürfen. So hatte sie sich in den Kampf mit den älteren Gallion’schen Männern gestürzt, bissig wie eine Ratte. Die ganze Reiterei und Streiterei mit störrischen Pferden und widerspenstigen Burschen war wie fortgesetzte Pubertät. Doch nun lag da eine Tote in einer Box. Irgendjemand war in diesem Machtkampf der Kreaturen hinten runtergefallen. Der größte anzunehmende Unfall in einem Reitstall war passiert. Ein Pferd hatte eine Reitkundin getötet. Polizei und Presse standen ins Haus. Jetzt brauchte das Gestüt Gallion nicht jemanden, der reiten, sondern der reden und verhandeln konnte. Für die gesellschaftliche Repräsentation hatte der General deshalb auch eigentlich einen Sohn vorgesehen gehabt. Kostbar war die Sekunde, in der Siglindes klamme Hand meinen Druck erwiderte und die Verantwortung fürs Reden mir

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