Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
holte Luft. Ich legte den Finger auf die Lippen, ging Bongart hinterher, der fast die Pferdeanhänger an der Remise erreicht hatte, und zog ihn am Arm zwischen zwei der grauen Wagen. Ihm liefen die Tränen aus den Augen. Todt hatte sich in bestimmten Momenten genau so seinen Gefühlen überlassen.
    »War es Prinz?«
    Ich nickte. Er drehte sich gegen die Wand des Hän gers. Ich legte den Arm um ihn und fühlte die Erschütterung unter dem grauen Anzug.
    »Dieser furchtbare Gaul! Ich war immer dagegen, aber er war ihr Ein und Alles.« Bongart schluckte. »Wie konnte das passieren? Sie war doch keine Anfängerin mehr. Sie reitet, seit sie zwölf ist …«
    Das waren ja nun bloß mal drei Jahre.
    »… meine Vanessa, meine kluge, sanfte, umsichtige Vanessa in der Box totgetreten. Das kann doch nicht wahr sein. Diese verfluchte Reiterei. Hätte ich ihr doch wenigstens wieder ein Pferd gekauft. Da streiten wir uns wegen Geld und wer die Stallmiete bezahlt, aber was unser Kind braucht, das haben wir vergessen. Wenn du selber Geld verdienst, habe ich Vanessa gesagt, dann kannst du dir ein Pferd kaufen. Dann wirst du merken, was das kostet. Und nun ist sie tot.«
    Eine Überschwemmung von Schuldgefühlen brandete gegen ihn und den Hänger.
    »Ich glaube«, sagte ich sanft, »Sie sollten wissen – und Kommissarin Feil wird Ihnen das sicherlich auch noch auf ihre taktvolle Art beibringen –, dass es einige Ungereimtheiten gibt, was den Tod Ihrer Tochter betrifft. Außerdem ist sie noch nicht identifiziert.«
    Er hob den Kopf. Schwache Hoffnung tropfte ihm aus den Lidern. »Dann könnte es sein …«
    »Wenn die Polizei die Eltern alarmiert, dann ist sie sich über die Identität eines Toten leider normalerweise ziemlich sicher. Aber es gibt mehrere Gründe zu der An nahme, dass Ihre Tochter nicht Opfer eines Unfalls wur de. Es sieht vielmehr so aus, als hätte jemand nachgeholfen.«
    »Wer?«
    Seltsam, dass so viele Leute immer zuerst »Wer?« fragten, noch bevor sie im Bilde waren, was überhaupt geschehen sein könnte. Als ob die Benennung eines Ver ursachers dem Ereignis erst Glaubwürdigkeit und Struk tur gäbe.
    »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, sagte ich, »aber im Moment ist das Warum die Hauptfrage. Wenn ich die Polizei wäre, würde ich Ihnen die Frage stellen, ob Sie etwas darüber wissen, dass Vanessa hier im Gestüt mit jemandem Probleme hatte oder Streit. Ich stelle Ih nen diese Frage nicht als Journalistin. Ich habe Urlaub und bin rein zufällig hier. Mein Schwiegervater, Friedrich Gallion, feiert heute seinen siebzigsten Geburtstag.«
    »Ach, dann sind Sie …« Kommunikative Konvention eroberte ihren Platz in seinen Gefühlen zurück. »Dann sind Sie die Frau von Siglindes Bruder. Ich habe schon viel von Ihnen … nein, das ist übertrieben, aber einiges von Ihnen gehört.«
    Wie schmeichelhaft. Aber von wem? Er war erst nach meinem Weggang nach Vingen gezogen.
    »Sie waren die Einzige«, sagte Bongart mit einem zu traulichen Blick hinter die Kulissen meiner Narben, »die dem Alten ab und zu Paroli geboten hat. Er hat gro ße Hoffnungen in Sie gesetzt. Er mochte Sie, nicht wahr?«
    Ich hatte keine Zeit, meinem Erstaunen nachzuspüren.
    »Und jetzt wollen Sie von mir wissen, ob meine Tochter hier im Gallion’schen Gestüt Feinde hatte. Feinde! Ein sechzehnjähriges Mädchen.«
    »Fünfzehn.«
    Ein beschämtes Vaterlächeln flog ihn an und kippte beinahe in Fassungslosigkeit, aber nur beinahe.
    »Hatte Vanessa vielleicht einen Freund?«, schlug ich vor.
    »Zumindest hat sie keinen erwähnt. Wie hätte sie das auch schaffen sollen. Die Schule und dann jeden Nachmittag im Stall. Pferde gingen ihr über alles. Sie haben ihr geholfen, die Scheidung besser zu verkraften. Ich fürchte, wir waren so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir ihr nicht die Liebe und Zuwendung gegeben haben, die sie brauchte. Aber sie hat ihr Zuhause bei den Pfer den gefunden. Tiere sind manchmal beständiger als Men schen, nicht? Und solange Vanessa gut in der Schule war, konnte man ja nichts dagegen sagen, dass sie jeden Nachmittag im Stall verbrachte. Mein Gott, Schulnoten! Wie unwichtig das jetzt ist.«
    »Und sie hat nie etwas erwähnt von einem Streit?«
    Er schüttelte den Kopf. »Manchmal hat sie sich über Tilde beschwert. Sie meinte, Tilde könne ihr nichts mehr beibringen. Sie wollte in die Sieben-Uhr-Gruppe, wo die Bereiter unterrichten. Aber die meisten haben keine Schulpferde mitgehen lassen. Auch ein Grund, warum

Weitere Kostenlose Bücher