Pferdekuss
scheiden. Vanessa bekommt das Haus.‹ Sie hatten Gütertrennung, weißt du. Und dann schreit er Hajo an und fordert ihn auf, sich mit ihm zu schlagen, wenn er ein Mann ist. Hajo hat gesagt: ›Ich schlag mich nicht, aber du kannst mich gern schlagen.‹ Ganz cool hat er das gesagt, und die andern haben alle gelacht. Da hat Dieter plötzlich eine Gerte in der Hand gehabt. Es war wirklich klasse. Zwei Mann mussten ihn festhalten. Dann ist er gegangen und nie wiedergekommen.«
»Und Vanessa hat das alles gehört und gesehen?«
Siglinde nickte vergnügt. Aber was ging in einer Vierzehnjährigen vor, wenn die Familie in aller Öffentlichkeit explodierte? Die Mutter war eine Stallnutte, und der Vater wurde vor allen Leuten vom Bereiter gedemütigt. Danach ging alles kaputt. Der Vater verschwand. Das Pferd wurde verkauft. Hajo ließ sie, obgleich er doch schuld war an allem, nicht auf Prinz in der S-Gruppe mitreiten, wohl aber ihre Mutter auf einem von Gallions Pferden. Es war ungerecht. Es schrie zum Himmel. Es verlangte Rache. Ein Jahr lang überlegte Vanessa, ein ums andere Mal bitterer, einsamer, böser. Sie gab Hajo immer wieder eine Chance, sie in die S-Gruppe aufzunehmen, und dann verspielte er die letzte und Arabal musste sterben, sein Traum von der Rennpferdezucht.
»Und mit wem«, erkundigte ich mich, »hat es Heide hier im Stall im Moment?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Das geht mir so was von am Arsch vorbei, was die Schnepfe treibt. Frauen, die mit Brillis und Goldarmbändern und Ringen reiten, haben bei mir sowieso verschissen.«
Ihre Augen blitzten in die Brillanten in meinen Ohren. Den Bereitern aber mochte es gefallen, dass unter ruppigen Amazonen eine Bongart war, die Reiten als gesellschaftliches Ereignis betrieb. In einem Stall konnte so eine samt ihren Goldarmbändern und Brillanten durchaus aus den Höhen sozialer Arroganz zur augenklimpernden Bewunderung starker Bereiter und Reitlehrer herabsteigen. Die Männer beherrschten die Pferde. Das nivellierte soziale Klassen. Hier wurde ein vor dreckiger Männlichkeit strotzender Hauptbereiter wie Hajo zum König.
»Aber dass Dieter dir von ihm und mir erzählt hat«, sagte Siglinde leicht verärgert. »Er kennt dich doch gar nicht.«
»Er hat es mir nicht erzählt. Er hat nur etwas von mir gewusst, das er nur von dir hat wissen können. Daher.«
»Bei dir muss man scheint’s die Worte auf die Goldwaage legen, he?«
Da konnte ich nicht widersprechen.
Siglinde lächelte skeptisch und anerkennend. »Na gut. Ich habe zu tun. Wir sehen uns ja heute Abend.«
»Wieso?«
»Du kommst doch zum Geburtstagsessen. Die Zeiten kennst du ja sicher noch.«
Im Sommer halb neun, im Winter halb sieben.
11
»Das ist aber spät«, sagte meine Mutter. »Da werde ich vorher mein Magenwasser nehmen müssen, damit ich das Nachtessen vertrage.«
»Du bist doch gar nicht eingeladen.«
»Die Gallions werden nicht die Tochter einladen und die Mutter nicht. So weit gehen sie nicht. Sie werden mir nicht die Tür weisen, auch wenn du das vielleicht gerne hättest.«
»Natürlich nicht!«
Meine Mutter knuckste zufrieden. Entscheidend war immer die Schnelligkeit der Lüge. Das Katholische hin terfragt nicht die Worte auf geheime Gedanken. Was man sagt, gilt. Sonst würde die Beichte nicht funktionieren. Nachdem das geklärt war, entdeckte ich meinen Hunger. Das Frühstück war lang her und bis halb neun war es noch weit. Ich begab mich in die Küche.
Sie war schon immer zu klein gewesen für die Eckbank mit Tisch, lackiertem Holzschrank, Herd und Kühlschrank, auf dem die Flasche Weihwasser stand. Meine Mutter hatte sich zu Mittag eine Brühe gemacht. Die erkalteten Reste standen auf dem Herd. Ich öffnete den Kühlschrank. Leer war gar kein Ausdruck für das, was sich mir offenbarte: eine Tomate, eine halbe Gurke, ein abgepackter Streichkäse und eine so gut wie leere Schale Margarine. Ich rechnete den katholischen Kalender nach.
»Haben wir gerade irgendeine Fastenzeit?«
»Du weißt doch, ich brauche nicht viel«, sagte meine Mutter schief.
Ich betrachtete das magere Figürchen unter dem Witwenschwarz, und mir wurde schlecht. Hatte sie mir nicht heute Mittag durch die Blume zu verstehen gegeben, dass wir zum Fleischer mussten? Allein war sie nicht gegangen. So viel Knausrigkeit, das war schon nicht mehr pietistisch, das war katholisch, nämlich Armut. Wie viel Witwenrente bekam sie eigentlich?
»Mama, warum sagst du es mir nicht, wenn du Geld brauchst? Ich
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