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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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hab’s doch.«
    »Du rufst ja nie an. In fünf Jahren hast du nicht fünf Mal angerufen, nicht mal zu Weihnachten.«
    Ich sank in die Eckbank. »Du aber auch nicht!«
    »Man will sich ja nicht aufdrängen.« Sie sog die Lip pen ein.
    Automatisch zog ich die Zigarettenschachtel aus der Jacke. Mein Hirn brauchte einen Beschleuniger.
    »Aber nicht in meinem Haus«, sagte meine Mutter.
    »Du musst dich endlich mal entscheiden, ob dein Haus auch mein Haus ist.«
    »Wenn ich tot bin, kriegst du es sowieso. Bis dahin wirst du dich doch wohl noch gedulden können, mein Kind.«
    »Mama!« Ich raufte mir die Haare. Schon zum zwei ten Mal rutschte mir das Mama raus. Ruhig bleiben! »Ich will nicht dein Haus. Es ist mir egal, an wen du es ver erbst. Ich will nur wissen, ob ich mich jetzt und hier zu Hause fühlen kann.«
    »Du wirst doch nicht dein Zuhause verleugnen.«
    Ich zündete mir die Zigarette an. Das Haus explodierte nicht. Meine Mutter durchquerte nur die Küche und öffnete das Fenster. Hintergartensommer quoll herein, der Geruch nach Rasenmäher, Kinderquaken und Wäsche.
    »Wenn du mich schon nicht um Geld bitten wolltest«, sagte ich, »dann hättest du wenigstens zum Sozialamt gehen können.«
    »So weit kommt es, dass ich Almosen nehme. Was sollen denn die Leute denken, wo ich eine Tochter habe, die in der Stadt lebt und Gallionerbe ist.«
    »Ich bin nicht Gallionerbin. Ich erbe keinen Pfennig als Hinterbliebene des Sohnes. Dass das mal klar ist. Ich lebe von seiner Lebensversicherung. Und wenn du nicht mit mir redest, dann kann ich auch nicht wissen, wann du was brauchst. Du hast mich früher nie in deinen Geldbeutel blicken lassen, also weiß ich auch heute nicht, was drin ist. Früher hat’s jedenfalls immer fürs Essen gereicht.«
    Meine Mutter stellte mir eine Untertasse mit Sprung als Aschenbecher auf das Wachstuch des Tischs. »Lernt man das nicht, wenn man Journalist wird, dass alles immer teurer wird. Das kommt doch sogar im Fernsehen. Überall muss man draufzahlen, was früher umsonst war, beim Zahnarzt, beim Arzt, in der Apotheke. Aber mehr Rente kriege ich trotzdem nicht. Und wenn dann eine Reparatur kommt. Weißt du nicht, was Handwerker heutzutage kosten? Aber das interessiert dich ja auch nicht. Du interessierst dich doch bloß für dich und dein Vergnügen. Da komme ich doch nicht angekrochen und bettle um Geld. Das muss von Herzen kommen.«
    Ich stippte die Asche in den Untersetzer. Ruhig blei ben! »Mama, du hast mir früher nie Taschengeld gegeben …«
    »Du hast noch jedes Mal bekommen, was du brauchtest!«
    »Ja, aber ich musste dich jedes Mal fragen. Um die zwei Mark für die Cola am Samstag im Gemeindezent rum musste ich dich jedes Mal extra bitten. Du hast sie mir gegeben, aber ich musste fragen. Und heute ist es umgekehrt. So ist das. Ich habe früher nie gewusst, wie viel Geld wir haben. Wenn du meinst, nun sollte ich es wis sen, dann musst du es mir sagen. Und wenn du was brauchst, dann musst du mich eben anrufen und fragen, wie es mir geht. Dann werde ich auch fragen, ob du was brauchst. So geht das.«
    »Jetzt soll ich daran schuld sein, weil du dich nicht um mich kümmerst, wie es sich für eine Tochter gehört? Schämen solltest du dich dafür.«
    Mein Gewissen konnte schlechter nicht sein. Sie ahnte es und zog die Daumenschrauben an.
    »Ich habe deine Wäsche gewaschen, dir das Essen gemacht. Und du? Was hast du je getan? Hat es dich je interessiert, worauf ich verzichten musste, damit du eine anständige Ausbildung bekommst?«
    »Worauf hast du denn verzichtet?«
    Meine Mutter geriet leicht ins Trudeln. Wie sollte sie auch ad hoc verschüttete Wünsche ausgraben. Sie hatte früh den Mann verloren. Sein Autohandel war pleite. Stillschweigend hatte sie auf den Friseur verzichtet und sich das lange Haar zum Christinnendutt gedreht. Fleisch gab es zweimal die Woche und »Butter unterm Käse gibt es erst, wenn man zwei Häuser hat«. Wenn Butter, dann Butter mit Reitern. Das war ein Butterbrot, in das sie mit dem Messer Streifen ritzte. Ich fragte mich, wann meine Mutter bei der Bewältigung der Armut ihre Phantasie verloren hatte. Wann hatte sie aufgehört, das Benetton-Label von meiner alten Jacke auf die neue Winterjacke aufzunähen? Schon vor dem Tod meines Vaters oder erst danach? Viel deutlicher erinnerte ich mich an die zwan zig Mark, die ein Nachbar zugesteckt bekam, weil er unsere Wasserhähne reparierte. Wir blieben niemandem etwas schuldig, nahmen nichts geschenkt. Unsere

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