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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Armut war adrett, sauber und ordentlich und blieb immer hinter den gestrichenen Fensterläden.
    »Vielleicht«, sagte meine Mutter, »wäre ich auch gern mal in Urlaub gefahren.«
    »Wo willst du hin? Nach Spanien? Nach Amerika? In den Bayerischen Wald? Oder willst du eine Kreuzfahrt um die Welt machen? Kein Problem.«
    »Man kann nicht alles mit Geld wiedergutmachen.«
    »Ich habe überhaupt nichts wiedergutzumachen!«, schrie ich.
    Meine Mutter wich einen wackligen Schritt zurück. »Dann tust du mir leid.« Darauf drehte sie sich um und verließ die Küche.
    Ich rauchte noch eine Zigarette und beobachtete mich beim Wüten. Ich schichtete meine Vorwürfe auf. Eine lieblose Mutter konnte keine liebevolle Tochter erwarten. »Wie der Herr, so ’s Gscherr.« Aber das würde sie nie einsehen. Auf ihre Weise hatte sie immer mein Wohl im Sinn gehabt, immer in der Angst, ich könnte dem Versucher erliegen. Was wollte ich jetzt noch? Ich war ihrer Vorhölle entkommen und alt genug, den Anspruch aufzugeben, dass sie mich verstehe. Es hatte keinen Sinn, meine Mutter für etwas zu bestrafen, das sie gar nicht als ihre Schuld erkannte. Sie war eine Gerechte. Nur ein Gottloser konnte ihr Gutes mit Bösem vergelten. Wenn ich mir selbst meine Unabhängigkeit beweisen wollte, dann gab es nur einen Weg: sie in ihrem Glauben lassen, aber selber nicht dran glauben.
    Ich stöberte sie beim Wut-Häkeln auf der Couch in der Stube auf. »Komm, wir gehen einkaufen.«
    »Aber heut Abend«, sagte sie, als ich nach dem Supermarktbesuch in Metzingen die vollen Tüten in den Kühlschrank und die Küchenschränke ausräumte, »zum Essen bei Gallion, da ziehst du was Netteres an.«
    Ich stopfte Butter, Fleisch, Wurst und Käse in den Kühlschrank und Nudeln, Kuchen, Kekse, Dosen mit Linsen, Ochsenschwanzsuppe und Reis in die Schränke. Vorräte für vier Wochen. Unter etwas Nettem stellte sich meine Mutter Rock und Bluse vor. Und mein Kostüm war versaut.
    »Nur wenn du dein Schwarz ablegst«, erwiderte ich.
    Ihre Antwort kam überraschend prompt. »Wie stellst du dir das vor? Ich hab doch nichts anderes.«
    Da glitzerte der Teufel in ihren Augen. Wenn ich so schlechte Bedingungen stellte, dass sie angenommen wurden, dann musste ich auch zahlen.
    Wir bestiegen Emma erneut und brausten nach Reutlingen, hinein in die Verkehrsschlucht aus Tankstellen, Lagerhallen, Großmärkten und Autohäusern zwischen Albkante und Zeugenbergen, jenen Erhebungen, die bezeugten, dass die Jurakalktafel einst weiter nach Norden reichte. Der Kaufhof schüttete die Altstadt mit seinen Lochelementen aus Beton blickdicht ab. Das Denkmal des Volkswirtschaftlers Friedrich List war deutliches Signal, dass wir dringend rechts abbiegen und Parkplatz suchen mussten. Und dann rein ins Gewühl, rein in den Kaufhof. Meine Mutter hatte durchaus Sinn für das, was gut und teuer war. Sie hielt sich bei den Wühltischen nicht auf. Ich entdeckte, dass sie die Sinnesfreuden keineswegs aus weltanschaulichen Gründen unterdrückt hatte. Was musste sie gelitten haben, dass sie den millio nenschweren Geizkragen von Vingen niemals hatte zei gen können, wie man Gottes wunderbarer Schöpfung Farbe und Glanz verlieh.
    Ich hielt ihr eine dunkelrote Bluse unters Gesicht. Sie bestand auf Hellrot, Lindgrün, Hellblau und Beige mit grünen Streifen, auf Seide und Baumwolle, und kicherte bei dem Gedanken an den Schock, den sie bei ihren Gemeindeschwestern auslösen würde, wenn sie in Rosa in die Georgskirche geisterte. Wir einigten uns auf Dunkelgrün, Mittelrot und Blau. Meine Mutter geriet in einen Kaufrausch und griff bei Betty Barcley in die Kleiderbü gel, um mir Rock und Twinset anzupassen.
    »Aber, Mama. Darin sehe ich aus wie eine leitende Beamtin.«
    »Nett und respektabel siehst du aus. Nur deine Haare sind unmöglich.«
    »Und wie findest du das?« Ich hielt mit einem Kleid gegen, dessen ärmelloses Oberteil weiß gegen den schwarzen, leicht ausgestellten Rock abgeblockt war. Der Stoffgürtel war mit einer silbernen Trense verziert. »Das ist doch ganz witzig, oder nicht?«
    »Glaubst du, ich lege mein Schwarz ab, damit du dich schwarz anziehst?«
    »Erstens ist das Oberteil weiß, und zweitens tragen junge Leute Schwarz und … äh … Seniorinnen knallige Farben. So sind die Regeln.«
    »Willst du damit sagen, dass ich mich lächerlich mache?« Meine Mutter musterte skeptisch ihre rot-grün-rosa Auswahl.
    »Aber nein!« Heiliger Otmar, steh ihr bei, sonst kehrt sie ins Schwarz oder

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