Pferdekuss
hinzu.
»Grüß Gott, Frau Graber. Ich bin Lisa Nerz. Wir ha ben heute Nachmittag schon miteinander telefoniert. Ich bin Journalistin. Ich mache eine Reportage über Reiterinnen und hatte dabei auch an Ihre Tochter gedacht.«
»Bekommt man da was dafür?«
Ich sah, was Petra täglich vor Augen hatte, diese aufgequollene Mutter im schiefen Rock, eine düstere Prognose der Zukunft, die Petra vor sich hatte, wenn sie die Schule vor dem Abitur schmiss: Kassiererin bei Schle cker, die Abende vor dem Fernseher bei Chips, Zigaretten und Bacardi, mal mit Mann, meist ohne, dann aber mit Bas tard im Kinderzimmer. Ich zog einen Hunderter aus meinem Geldbeutel. Die Mutter nahm ihn, als hätte ich mich eine halbe Stunde lang bemüht, sie zu überreden.
»Wir essen um acht. Hast du gehört, Petra? Wollen Sie was mitessen?«
»Nein danke.«
Die Mutter zuckte mit den bergigen Schultern und drehte sich in die Küche weg. Petra drehte sich wortlos in die andere Richtung und verschwand hinter einer Tür. Die matronenhaft gepolsterten Hüften der Sechzehnjährigen und die strammen X-Beine in den Reithosen, von denen sich das Kniekunstleder schon löste, erzählten alles über die Last der Unterschicht. Manchmal hielten sich kluge und schöne Mädchen wie Vanessa solche mausgrauen Billigprodukte, denn das machte schlank. Doch Petra musste unter den Dauerwellen mehr Verstand versammelt haben als all ihre Klassenkameradinnen zusammen, wenn sie es aus dieser Wohnung heraus bis ins Gymnasium nach Reutlingen und bis in Gallions Gestüt geschafft hatte.
Ich folgte Petra in ein Kinderzimmer mit zerwühltem Bett, offenstehendem Schrank und herumquellenden Klamotten. Sie besetzte den einzigen Stuhl am Schreib tisch und wandte mir ein eingetrotztes Gesicht zu. Da mir nur das Bett geblieben wäre, blieb ich erst einmal zwischen umgekippten Reitstiefeln stehen.
»Tut mir leid, dass ich so eindringe. Aber du kannst dir sicher denken, warum.«
Petra konnte es sich denken, wollte es aber nicht zeigen.
»Ich komme gerade vom Amselweg. Hinterm Haus steht Vanessas Fahrrad, und ein Nachbar hat mir gesagt, sie und ihre Mutter seien verreist. Wenn sie aber verreist ist, dann ist sie nicht tot.«
»Sind Sie von der Bild -Zeitung?«
»Nein. Vom Stuttgarter Anzeiger .«
»Ich will nämlich nicht, dass meine Mutter erfährt, was da im Stall passiert ist. Sonst habe ich nur wieder voll Stress. Sie hat immer Angst, dass mir bei den Pfer den was zustößt und dass ich dann im Rollstuhl sitze.«
Eine originelle Variante mütterlicher Horrorgemälde. »Meine Mutter hat mir immer prophezeit, dass ich in der Gosse lande oder schwanger heimkomme. Aber Roll stuhl … Es macht klar, dass Mütter mit den Kindern kei ne Last haben wollen, nicht?«
Petra lächelte ein wenig. »Also, was wollen Sie von mir?«
»Ich heiße Lisa, okay? Und ich will wissen, wo Vanessa ist.«
Petra stand auf, überprüfte, ob die Tür verschlossen war, setzte sich wieder und stellte den Kassettenrekorder auf dem Schreibtisch an. Westernmusik galoppierte los.
»Und Sie versprechen … du versprichst mir, dass du niemandem sagst, woher du das weißt, was ich jetzt er zähle, und dass mein Name nicht in der Zeitung steht.«
»Ich verspreche es.«
»Obwohl«, sagte Petra, »jetzt ist es eigentlich auch egal. Jetzt, wo Vanessa tot ist. Sie hatte sich so auf das Wochenende mit Ronni gefreut …«
»Wer ist Ronni?«
»Ronald Maiwald. Ihr Freund. Jetzt, wo Vanessas Mutter weg ist, hätten sie sturmfreie Bude gehabt.«
»Von vorn, Petra, bitte.«
»Es ist so.« Petra hüstelte. »Heide, also Vanessas Mutter, hatte scheint’s dieses Jahr besonders heftig Heuschnupfen. Der Arzt hat ihr gesagt, sie soll die Grä serblüte auf einer Nordseeinsel verbringen oder irgendwo im Süden am Meer. Jetzt sind die Pfingstferien aber schon rum. Da konnte sie Vanessa natürlich nicht mitnehmen. Aber sie allein in der Villa lassen, das wollte sie auch nicht. Vanessas Vater hätte nur darauf gewartet, dass so etwas passiert. Er will sowieso das Sorgerecht haben. Das ist voll der Ehekrieg. Heide wollte auch nicht, dass Vanessas Vater für die Zeit wieder in der Villa wohnt. Sie hat sogar alle Schlösser auswechseln lassen. Ich glaube aber, sie wollte nur nicht, dass er mitkriegt, wo sie hinfährt und mit wem. Ich glaube das mit dem Heuschnupfen nämlich nicht.«
Kurzum: Heides Plan war, Vanessa für vierzehn Tage nach Stuttgart zum Vater zu schicken. Das mittlere Wochenende war sowieso seines. Und
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