Pferdekuss
gar im Hemd nach Hause zurück. Ich flüchtete mit dem weiß-schwarzen Hänger in die Umkleidekabine.
»Du solltest Halbarm tragen«, stellte meine Mutter fest. »Du hast zu dicke Oberarme. In dem da siehst du aus wie ein Bub in einem Kleid.«
»Sehr schön. Dann nehmen wir das.«
Auf dem Weg zur Kasse fielen uns noch Seidenstrumpfhosen und Gürtel in die Hand. Außerdem kamen wir an der Schuhabteilung vorbei. Meine Mutter drang sehr schnell von den Einzelpaaren im Sonderangebot zum Regal von Bally vor. »Da hat man ein Leben lang Freude dran.«
12
Ich machte mich zu einem Spaziergang auf, während meine Mutter die Kleiderschränke umräumte. Neu-Vingens Wohnstraßen waren alle kürzer, als ich sie in Erinnerung hatte. Von dem Haus mit der Eibenhecke musste ich nur den Zeisigweg hinauf und befand mich im Amselweg. Hinter seinen Häusern stieg der bewaldete Hang unmittelbar zur Hohen Warte an. Im Winter lagen die Häuser ganztägig im Bergschatten. Kein Vingener hatte je dort gebaut.
Das Haus Nummer 39 lag angeschrägt, verglast und von Schiefer geschwärzt in einem Garten mit Korkenzieherhaselnuss und Blautanne. Die Garage war für zwei Autos zugeschnitten. Am Torpfosten prangte in Messing der Namenszug Bongart. Ich klingelte. Nach angemessener Wartezeit stieg ich übers Tor, ohne die Nachbarn durch verstohlenes Um-mich-Blicken misstrauisch zu machen.
Hinter der Garage lehnte ein Fahrrad, ein Bastard zwischen Mountainbike und Damenfahrrad. In den Reifen und Speichen hingen Staub und Kies vom Gestütsparkplatz.
Vanessas Fahrrad hinter der heimischen Garage, das reimte sich nicht. Sie war zusammen mit Petra ins Gestüt geradelt, aber nicht mehr nach Hause. Warum hätte ihr Mörder das Risiko eingehen sollen, das Fahrrad einer Toten bis hinter die heimische Garage zu bringen? Und wozu? Freilich hätte die Mutter das Fahrrad der Tochter in ihrem Auto heimbringen können, zum Beispiel, weil Vanessa noch irgendetwas vorhatte. Aber dann hätte die Mutter unbedingt in Sorge geraten müssen, wenn die Tochter die ganze Nacht nicht heimkam. Es sei denn, Heide Bongart hatte die Nacht selbst nicht daheim, sondern in einem anderen Bett verbracht.
»Was wellet Sie denn do?«, bellte mich jemand von hinten an. Am Zaun stand der Bauch des Nachbarn. »Die Bongarts senn net do. Die senn verreist.«
»Die Tochter auch?«
»Des kann i Ihne net sage. I henn nur zufällig gsehe, wie sie gerschtn zwoi Koffer in den Wage do henn. Ond die Jong henn i heut au’ den ganze Tag net gsehe.«
Das durfte nicht wahr sein. Mutter und Tochter verreist? Und wir alarmierten Vater Bongart. Er erging sich wortreich in seiner Unfähigkeit zu trauern und identifizierte am Ende sogar im Kühlhaus von Tübingen eine bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Leiche als seine Tochter, weil er im Grunde keine andere Wahl hatte. Wer kam auch auf die Idee, dass Mutter und Tochter Bongart knapp eine Woche nach dem Ende der Pfingstferien gleich wieder verreisten. Welche Frechheit auch, denn kein Schuldirektor, auch nicht der noch so schwache Rektor eines Reutlinger Kleinstadtgymnasiums, konnte eine solche Reise genehmigen, selbst dann nicht, wenn die Exgattin eines Beamten aus dem Kultusministerium goldschwer anrückte. Wenn es sich aber um eine dringende Familienangelegenheit handelte, beispielsweise um einen Todesfall in der Verwandtschaft von Heide, dann hätte sich Vanessas Freundin Petra Graber vorhin nicht so auskunftsscheu anstellen müssen. Dann hatte alles seine Ordnung.
Ich bedankte mich beim frühverrenteten Bauch des Nachbarn und begab mich hinter den Friedhöfen herum ins Zentrum von Vingen hinab.
Die Berggasse führte vom alten Backhaus zur protestantischen Stephanskirche hinauf, kurz, aber steil und kopfsteingepflastert ohne Fußwege. Die Häuser hielten sich an keine Flucht. Sie kragten mit Ecken und Schuppen in die Straße. Wo es der Schatten einer Hausecke erlaubte, parkte ein Auto. Nummer 12 war ockerfarben und kahl. Der Küchenbalkon ragte dem Nachbarn förmlich ins Badfenster. Die Latte von Klingelknöpfen an der Tür wies darauf hin, dass dies ein Mietshaus war, eines jener Orte im Dorf, wo diejenigen lebten, die nichts hat ten, Verkäuferinnen, Arbeitslose, Ausländer, Geschiedene. Ich klingelte bei Graber. Der Türsummer summte. Drinnen quetschte sich eine dunkel gebohnerte Holzstiege nach oben. In der Tür im ersten Stock stand Petra, die X- Beine noch in Reithosen, aber die Füße nackt. Aus der Küche kam eine breite Frau
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