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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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so spät gekommen ist, aber es wird was. Willst du ihm einen Namen geben?«
    »Ich?«
    »Du warst doch zum ersten Mal bei einer Geburt da bei. Dann musst du ihm einen Namen geben. Und dann …«, er holte Luft, »dann musst du mir zeigen, wie man ihn schreibt, damit ich mich nicht wieder blamiere.«
    Ich hielt die Luft an.
    Das Füllen machte den dritten Anlauf, wackelte zwei Sekunden auf unkoordiniert in die Gegend staksenden Beinen und brach erneut zusammen.
    »Ich habe nämlich nie lesen und schreiben gelernt. Es hat sich nicht ergeben. Meine Eltern gehörten zu einem kleinen polnischen Wanderzirkus. Wir waren immer unterwegs. Manchmal steckte man mich in eine Schule, aber ein kleiner Zirkus bleibt nirgendwo lange. Ich habe ein bisschen Polnisch und Ungarisch und Tschechisch gelernt, Russisch sowieso. Meine Eltern haben mit mir Deutsch gesprochen. Aber zum Lesen und Schreiben hat es nie gelangt. Als ich ungefähr zwölf war …«
    Noch einmal brach das Stutfohlen zusammen, doch raffte es sich sofort wieder auf. Der Teufel steckte in den irrsinnig langen Beinen, die koordiniert werden mussten.
    »… raffte eine Grippe die halbe Zirkusmannschaft hin, auch meine Eltern. Ich blieb im Gestüt Kühlungsborn. Der Alte zog mich wie einen Sohn auf, aber der Junge hasste mich. Als der Alte vor neun Jahren starb, bin ich gegangen.«
    Das Fohlen stand sekundenlang völlig regungslos mit desorientierter Ohrhaltung und lotete sein Gleichgewicht aus.
    »Seit der Wende ziehe ich durch Deutschland von Gestüt zu Gestüt und von Reiterhof zu Reiterhof. Ich habe den Stallburschen gemacht und für den Bauern das Mädchen für alles. Manchmal sind sie dahintergekommen, dass ich reiten kann, aber wenn sie mich dann zu den Prüfungen schicken wollten, damit ich den Pferdewirt oder den Bereiter mache, dann bin ich abgehauen.«
    »Aber es gibt doch Kurse. Reutlingen hat eine Volkshochschule.«
    »Die Programmhefte kann ich nicht lesen. Ich hätte mich jemandem anvertrauen müssen. Aber wenn man vierzig ist, dann will man sich nicht mehr zum Idioten machen. Es ist doch so, jeder Dummkopf kann lesen und schreiben, nur ich nicht. Es ist, als hätte ich ein Loch im Gehirn. Jemand hat mal versucht, es mir beizubringen. Ich habe mir nur gemerkt, wie man meinen Namen schreibt.«
    »Aber du hast ihn falsch geschrieben, zumindest im Vertrag, den Siglinde dich hat unterschreiben lassen. Sonst wäre ich nicht darauf gekommen.«
    Hajo lachte verärgert.
    »Leider war Siglinde dabei, als es mir auffiel.«
    »Und sie hat es dem Alten gesagt. Sie werden mich bloßstellen, bis mir nichts anderes mehr übrigbleibt, als zu gehen.«
    Das Fohlen machte einen Schritt und schwankte. Ich spürte, an Hajos Körperspannung, dass auch er den Sturz vorhersah, dass er mitlitt, als das Pferdchen, getragen vom Übergewicht des Kopfes, quer durch die Box segel te, jeden neuen Stolperer mit einer schrecklichen Verwirrung und Entflechtung der Beine abfangend. Sein Ziel war die Stute mit ihrem Euter. Es suchte nach etwas Winkligem und landete zunächst an ihrer Ellbogenbeuge. Hamsun knabberte zwar am wolligen Schwanzansatz des Kleinen, war aber noch nicht so erfahren, sich ihm mit dem Euter zuzudrehen.
    »Ich würde gleich gehen, um mir die Demütigungen zu ersparen«, fuhr Hajo fort, »aber wenn ich jetzt abhaue, dann löst die Polizei wahrscheinlich eine Großfahndung aus und verhaftet mich unter Mordverdacht.«
    Das war es also, was ihm seit Stunden im Schädel herumrumpelte.
    »Dann nimm es als Chance«, sagte ich, »dass du diesmal nicht abhauen kannst. Geh in die Offensive, gib zu, dass du Analphabet bist, und lern endlich schreiben. An Intelligenz fehlt es dir ja nicht.«
    »Danke«, knurrte er.
    Der Instinkt sagte dem Fohlen zwar, dass es das Euter unter dem Stutenbauch finden würde, aber nicht, ob vorn oder hinten. Mit vorgestülpter Zunge suchte das Tierchen den Bauch entlang. Es war zum Verzweifeln. Solch sinnlose Instinktlücken interpretierte der Mensch gern als wichtiges Stadium der Stuten-Fohlen-Bindung. Es lernt Geruch und Farbe der Mutter. Vor allem an der Farbe erkennt es die Mutter auf der Weide unter anderen Stuten stets heraus. Doch stößt das Maul dann endlich ans Euter, spritzt ihm die Milch entgegen und rinnt ihm über die Zungentülle in den Schlund, dann hört die Suche nach Erklärungen auf. Unser Fohlen saugte sich fest. Aber Hamsun erschrak und wich aus. Die Suche begann von Neuem.
    »Du hast ein gutes Gedächtnis«, fuhr ich fort, »ein

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