Pferdekuss
Trabis nicht nur gefahren, sondern auch repariert, zum Beispiel die Bremsen.
»Wirst du damit klarkommen?« Er musterte mein Kleidchen, das unter seinem Sweater hervorlugte, und die Stange des Rades, die dem bisschen Stoff kaum in die Quere kommen würde. »Nein, lass!«, sagte er, als ich Anstalten machte, seinen Sweater auszuziehen, und hob die Hände. Ich hatte meine Hände bereits am Pullover. Also kippte das Fahrrad zwischen uns. Ich fasste nach dem Sattel, er auch.
Etwas verwirrt radelte ich nach Hause. Nicht nur, dass ich im Fahrtwind bibbernd Rechenschaft von mir forder te, weil ich nach Hause dachte, obgleich ich zum Haus mei ner Mutter fuhr. Mein Zuhause war eine Altbauwohnung in der Neckarstraße in Stuttgart gegenüber der Staatsanwaltschaft, wo ganz nebenbei bemerkt ein Oberstaatsanwalt meiner Rückkehr harrte, der sein Zuhause in einer Jugendstilwohnung an der Kauzenhecke hatte, ei nen Bechsteinflügel besaß und jede Menge Bildung und Kul tur.
17
Meine Mutter schnarchte. Die töchterliche Sorge hatte mich bewogen, die Tür ihres Schlafzimmers einen Spaltbreit zu öffnen, um zu hören, ob sie noch atmete. Ich konnte mich nicht erinnern, ihr Schlafzimmer früher betreten zu haben, und war verblüfft, sie in einem Ehebett liegen zu sehen. Ich hatte angenommen, das habe sie so entschlossen abgeschafft, wie sie meinen Vater unter die Erde brachte und allen nickenden Eheweibern und Witwen des Ortes erklärte, ihr käme kein Mann mehr ins Haus. Mein männerfeindliches katholisches Gedankengut bekam später bei den Feministinnen der Amazone den richtigen Schliff.
Als Kind hatte ich mir einen älteren Bruder gewünscht. Mit einem Bruder über mir, auf dem die Hoffnungen der Eltern ruhten, hätte ich womöglich beizeiten kapiert, dass der Geschlechtsunterschied nicht nur auf Anatomie beruht, sondern vor allem auf unterschiedlichem Erleben, Denken, Fühlen, Verhalten und Wünschen. Als ich endlich mit Todts Hilfe den anatomischen Unterschied erkannte – ich hatte zwar davon gehört, dem jedoch keine existenzielle Bedeutung beigemessen –, war es zu spät, mein Ich noch umzukrempeln, in Männlichkeit und Weiblichkeit aufzudröseln und mich Letzterem zuzuschlagen. Die hölzerne Madonna auf der Sockenkommode hatte mich von früher Kindheit an in die Irre geführt.
Petras überwältigend junges Fleisch kam mir in den Sinn. Die Gewissensbisse, die ich hätte haben müssen, weil ich eine Sechzehnjährige verführt hatte, der ich kei neswegs die Freundschaft bieten konnte, von der sie vielleicht träumte, wollten sich nicht einstellen. Vielmehr wünschte ich mich zurück in die Wolken von Klamotten in dem Kinderzimmer und zwischen die Hügel weicher Brüste. Petra war gleichgültiger erzogen worden. Darum. Das Geld, das ihre Mutter an der Kasse bei Schlecker verdiente, reichte auch nicht weit. Aber dort herrschte nicht verschämte, sondern unverschämte Armut. Diese Mutter schnappte nach dem Hunderter, bevor sie mich zum Interview an ihre Tochter ließ. Da konnte auch Petra sich ihren Teil erobern. Ihre Geheimnisse bedrohte kein allwissender Gott mit unerdenklichen Strafen. Die Geheimnisse gehörten ihr ganz allein.
»Hast du das gewusst?«, fragte meine Mutter beim Frühstück am Küchentisch. »Da haben sie gestern eine Tote im Gestüt gefunden.« Sie blickte aus dem Vinger Boten auf, den sie jeden Morgen vor allem wegen der Todesanzeigen studierte. »Warum hast du mir denn nichts davon gesagt. Da sitzen wir beim Abendessen beim Gallion alle so fröhlich beisammen, und dabei hat ein junger Mann ein junges Mädchen ermordet …«
»Wie?«
»Die Polizei fahndet nach einem Bürschle aus Reut lingen. Einem Ronald Maiwald. Er soll die kleine Bong art ermordet haben, die aus dem Amselweg. Die kennst du doch. Ach nein, die Bongarts sind ja erst vor drei oder vier Jahren hergezogen. Ich habe die kleine Vanessa oft auf dem Fahrrad gesehen, mit Reitstiefeln, so wie du früher.«
»Nein, Mama. Du kannst mich nicht mit Vanessa vergleichen.«
Meine Mutter schob die Lippen vor. »Ich habe ja auch immer aufgepasst, dass ich weiß, wo du dich rumtreibst und mit wem. Es kann so viel passieren. Und die jungen Mädchen sind so vertrauensselig. Scheint’s hat der Kerl aus Reutlingen der Vanessa nämlich Gewalt angetan und sie dann bei einem Pferd eingesperrt.«
»Steht das da so in der Zeitung?«
»Natürlich nicht. Das dürfen sie nicht schreiben, damit keine Panik ausbricht wegen einem Kinderschänder. Da steht nur,
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