Pflicht und Verlangen
verlassen! Du
darfst mich nicht verlassen! Charlotte! Ich liebe dich, weißt
du das denn nicht?«
Sie
erschrak. Er war völlig außer sich. Seine Worte klangen
rau und verzweifelt. Sie hatte nicht geahnt, nicht zu hoffen gewagt,
dass seine Gefühle für sie so stark waren. Mindestens
ebenso stark wie die Gefühle, die sie seit Langem für ihn
empfand. Aber während sie bis zuletzt dagegen angekämpft
hatte, hatte er ihnen schließlich nichts mehr entgegenzusetzen
vermocht, das wusste sie jetzt mit Gewissheit. Der Kuss in der
Bibliothek war nicht die Laune eines Augenblicks gewesen, nicht ihre
Schuld. Er liebte sie genauso wie sie ihn liebte. Sie hatte sich
nicht getäuscht, auf ihrer Wanderung in den Hügeln
Dullhams. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie beide, seit sie sich
begegnet waren, ihren Gefühlen Gewalt angetan hatten. Wie hatte
sie nur so blind sein können?
» Ich
weiß es!«, sagte sie deshalb schlicht und sah ihn
unverwandt an. Einen Augenblick lang stockte er, dann nahm er ihr
Gesicht in seine Hände und küsste sie wild.
» Dann
geh mit mir fort, ich bitte dich! Du sollst bei mir sein für
immer und mit mir leben – ich halte es einfach nicht aus, wenn
du mich verlässt«, flehte er, während er ihre Lippen
und ihr Gesicht weiter mit drängenden Küssen bedeckte.
Für
einen kleinen Moment, überwältigt von seiner Leidenschaft
und der Aufrichtigkeit seiner Gefühle, gab sie dem verlockenden
Gedanken nach. Ein Leben an Johns Seite, ihn lieben zu dürfen
und von ihm geliebt zu werden, von dem Mann, von dem sie wusste, dass
er sie gerade für ihr unkonventionelles Wesen, für ihren
fragenden Verstand liebte, das war zu schön, um wahr zu sein.
Sie überließ sich seiner Liebe und ließ ihn
gewähren, genoss und erwiderte seine Berührung und
Leidenschaft.
Doch
dann regte sich störend ihr rastloses Gewissen und hinderte sie
daran, sich ihm völlig hinzugeben. Wenn sie seinem Begehren
nachgab und ihm wider alle Konventionen folgte, würde das auch
bedeuten, dass er sich gesellschaftlich ruinierte, dass Lady
Battingfield von ihm verstoßen würde – und das vor
aller Augen! Sie wusste nur zu gut, dass ein solch radikaler Schritt
niemals in den Kreisen des Adels geduldet werden würde. Wollte
er sie nicht nur zu einer mehr oder weniger geheimen Geliebten machen
– und das schien er beileibe nicht im Sinn zu haben –
bedeutete das harte Konsequenzen. Es würde ihm nichts anderes
übrig bleiben, als seine Heimat, die er doch so sehr liebte, zu
verlassen und sich mit ihr irgendwo im Ausland niederzulassen. Ein
unmoralisches Verhalten dieses Ausmaßes würde in den
leider doch sehr engen Kreisen des Adels nie und nimmer geduldet, von
ihrer eigenen Reputation ganz zu schweigen. Sie wusste nur zu gut,
was man über Frauen dachte, die eine vor Gott geschlossene Ehe
auseinanderbrachten. Der Gedanke an ein solches Leben, ständig
der öffentlichen Verachtung ausgesetzt, war für sie einfach
unerträglich. Zu sehr litt sie seit Jahren unter der Anfeindung,
die ihr allein ihrer Herkunft wegen entgegengebracht wurde und hatte
als Kind erlebt, dass die gesellschaftliche Ächtung ein
verborgener, ständig schwärender Dorn im Fleische ihrer
Mutter gewesen war. Diese Überlegungen machten ihr die
Unmöglichkeit seines Verlangens überdeutlich. Es gab keine
Zukunft für sie an Johns Seite. Sie begann, sich sanft gegen
seine zunehmend fordernde Leidenschaft zu wehren und schob ihn von
sich.
» Du
weißt, dass das nicht geht!«, sagte sie leise.
» Warum
geht es nicht? Ich liebe dich, und du liebst mich. Es ist mir egal,
was aus uns wird oder was geredet wird. Ich will nur nicht ohne dich
leben.« Wieder umschlang er sie heftig und fuhr fort, sie zu
liebkosen.
Da
auf einmal wusste sie, was sie zu tun hatte. »John! John, hör
mir zu!« Sie rief ihn mehr als einmal beim Namen, um ihn zur
Besinnung zu bringen und zwang ihn, sie anzusehen. »Aber mir
ist es nicht egal, was aus dir wird. Mir ist es auch nicht egal, was
aus deiner Frau wird. Denkst du auch an sie? Und es gibt noch mehr
Menschen, die …«, sie unterbrach sich, denn es kam ihr
im letzten Moment in den Sinn, dass sie Emmy ihr Wort gegeben hatte
zu schweigen. Deshalb setzte sie etwas ruhiger fort: »Ich
verstehe dich, John, und weiß Gott, ich liebe dich auch. Jetzt
darf ich es endlich sagen! Aber trotzdem zerstört diese Liebe
alles. Sie würde dein Leben letztlich zerstören. Meines ist
wohl schon zerstört, aber das ist nun gleichgültig.«
Sie ließ
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